Diskussionsstoff noch und noch

„Der Rausch“ von Thomas Vinterberg

von Renate Wagner

Der Rausch
(Druk) Dänemark 2020

Drehbuch und Regie: Thomas Vinterberg
Mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe u.a
 
Wie man weiß, hat es dieser Film zum „Auslands-Oscar“ gebracht, kaum glaublich, wenn man die Moralinsäure der Amerikaner bedenkt. Ein Thema, das überall sonst (zumindest hierzulande) mit den heftigsten Emotionen diskutiert und den striktesten moralischen Schranken belegt würde, wird hier von dem Dänen Thomas Vinterberg so ruhig und gelassen behandelt, daß es fast unheimlich wirkt.
„Rausch“ (original: „Druk“) handelt vom Alkohol, und das ist ja eigentlich kein Spaß – schon gar nicht in einem Land wie Österreich, wo angeblich 10 Prozent der Bevölkerung nachweislich unter dieser Sucht leiden, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Kann man darin Positives finden? (Jeder Heurigenbesucher wird laut ja! sagen). Hemmungsloses, kollektives Kampfsaufen – und auf der Leinwand macht es den Beteiligten offenbar riesigen Spaß.
 
Aber in dem Film von Vinterberg, der uns schon manches hartes Thema beschert hat, geht es um Alkohol nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck, und das ist die Substanz seines Films, der sich (im Gegensatz zu uns) nie aufs moralische Roß schwingt. Er zeigt vier intellektuelle Männer in der Mitte ihres Lebens, die von der tiefen Ödigkeit ihrer Berufe und Beziehungen umklammert werden. Sie ziehen sich nicht (wie viele andere) eine Prise Kokain in die Nase, sie haben es mit permanentem, kontrollierten Trinken versucht. Spiegeltrinken, damit das Leben erträglich wird. Ein Schluck Wodka für den Lehrer, bevor er in die Klasse geht, damit er nicht verzweifelt angesichts der teils verächtlichen, teils mitleidigen, teils herablassenden Blicke der Schüler…
Die vier Männer, um die es geht, an der Spitze der Lehrer Martin (fabelhaft wie immer: Mads Mikkelsen als Mann mit anstrengendem Familienleben und kleinen Kindern, neben ihm als seine Berufskollegen Thomas Bo Larsen, Magnus Millang und Lars Ranthe), sind keine verantwortungslosen Idioten. Sie haben recherchiert, wie viele Promille „richtig“ sind (0.5 angeblich), damit man sich gut fühlt, ohne die Kontrolle zu verlieren, daß man ein Level von sanfter Angetrunkenheit erreicht, wo man aufgeräumt, gut drauf und kommunikativ ist? Tatsächlich versucht Vinterberg hier eine Art von Selbsthilfe nachzuzeichnen – gab es denn nicht berühmte, kreative Säufer, Hemingway zum Beispiel?
Sie sind klug, sie reden sich auf ein wissenschaftliches Experiment für ihre Flucht aus der Unerträglichkeit des Alltags hinaus. Und wissen doch nicht, daß wer mit dem Feuer spielt, sich notwendig verbrennt. Am Ende ist einer von ihnen tot. Und Vinterberg bietet mit dem Schlußbild keine Lösung an. Der betrunkene Martin springt von einem Dach – und das Bild friert ihn in den Lüften ein. Heißt das, daß er nun fliegen kann? Oder erspart uns der Regisseur nur den letalen Absturz?
 
Egal, es ist kein Lehrstück. Es fragt mehr nach der Sinnentleertheit manchen Alltags als nach dem Alkohol, der nur ein Versuch ist: einfach alles erträglicher zu machen. Mit den falschen Mitteln? Warum nicht, wenn es hilft? fragt der Film. Diskussionsstoff noch und noch.
 
 
Renate Wagner