Grimms „Kinder- und Hausmärchen“

Ein weiteres Rätsel gelöst

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Der Nestor und Doyen der deutschen Volkskunde und Märchenforschung,
Prof. Dr. Heinz Rölleke, feiert heute seinen 85. Geburtstag.
Die Musenblätter danken ihm für seine wunderbaren Beiträge
der vergangen Jahre und gratulieren von Herzen!

Grimms „Kinder- und Hausmärchen“
 
Ein weiteres Rätsel gelöst
 
Von Heinz Rölleke
 
Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm“ lautet der Titel zu allen zwischen 1812 und 1858 erschienenen 17 Auflagen eines schlicht aufgemachten Buches, dem nicht an der Wiege gesungen war, daß es zum berühmtesten, bekanntesten, meistgedruckten und meistübersetzten deutschsprachigen Best- und Longseller aller Zeiten werden sollte. Was die Bekanntheit dieses Buches im deutschsprachigen Raum betrifft, so nehmen Grimms Märchen insofern eine besondere und herausragende Stelle ein, weil sie mehrere Generationen hindurch unhinterfragt als das Kinderbuch schlechthin galten, aus dem Kindern seit ihrem vierten oder fünften Lebensjahr viel vorgelesen oder erzählt wurde. Der von Wilhelm Grimm meisterhaft entwickelte Märchenstil wirkt auf Kinder besonders suggestiv: Sie können schon früh ganze Sätze auswendig und achten und bestehen (nur bei diesem Buch!) sehr darauf, daß die Geschichten bei erneutem Vorlesen oder Erzählen wörtlich genauestens wiedergegeben werden, wie sie diese im Ohr haben. Daß etwa zwei Dutzend Grimm'scher Märchen auch auf diese Weise den kindlichen Rezipienten bis ins Erwachsenenalter präsent blieben, ist bekannt. Auf Schillers „Glocke“ werden heutzutage keine Parodien mehr vorgetragen, und die Werbung bedient sich nur noch weniger Zitate oder deutlicher Anspielungen auf vielleicht noch allbekannte Texte, sondern fast ausschließlich auf immer noch allgemein bekannte Märchen, die man als Rest einer literarischen Allgemeinbildung ansehen kann. Dafür ist die Werbung ein unbestechlicher Indikator: Shampoo wurde mit einer Anspielung auf Rapunzels sprichwörtlich überlanges Haar beworben, Rotkäppchen wird als Werbeträger für Käse oder später für eine Sektmarke eingesetzt, Dornröschen preist Betten oder Schlafmittel an und viele andere. In der Werbung stehen Grimms Märchen also weiterhin in Blüte – noch auffälliger in den vielen Quizsendungen, die in Rundfunk- und Fernsehprogrammen viel Raum einnehmen. Die Fragen nach literarischen Kenntnissen beschränken sich wohlweislich auf Motive und Zitate aus Grimms Märchen; man rekurriert also mit Blick auf die Kandidaten und auf das Publikum auf Kenntnisse, die man - mit Recht - ehestens noch voraussetzen kann.
 
Den Märchenkennern wird inzwischen immer mehr bewußt, daß die Formulierung der Fragen wie die zutreffenden Antworten in diesem Quiz-Metier flüchtiger präpariert werden als zu andern Wissensgebieten. Man scheint da nach dem Motto zu verfahren: Märchen kennen wir doch alle, da muß man sich wohl kaum erneut kundig machen. Auf diese Weise sind schon einige Fauxpas passiert, weil man sich nicht genauer mit den Märchen vertraut gemacht hat. Um dem zu steuern, bekomme ich in letzter Zeit regelmäßig Anfragen von den Sendeanstalten, die ihre vorgesehenen Fragen und Antworten zuvor überprüfen lassen wollen. Ein Schweizer Sender forderte das kürzlich geradezu von mir, da die Sendung nur mit meiner Unbedenklichkeitserklärung starten dürfte. Es ist schon hanebüchen, was einem da manchmal auf den Tisch kommt. Auf präzisere und vor allem auf den Sachverhalt richtig treffende Fragen können die Kandidaten erfahrungsgemäß leichter antworten. Verwirrungen gab es allerdings immer wieder; einige wurden mir (zu spät!) zur Entwirrung vorgelegt. „Aschenbrödel“ als Antwort auf die Frage nach dem Namen des Mädchens im Titel eines Grimm'schen Märchens wurde als „richtig“ bewertet, obwohl die spätere Prinzessin bei Grimm „Aschenputtel“ heißt; nach den Namen der Stiefschwestern, die sich im Reich der Frau Holle bewähren müssen, darf man als Märchenkenner a priori nicht fragen, denn es gibt keine spezifischen Namen im Märchen, und die Mädchen heißen nicht „Goldmarie“ und „Pechmarie“, wie immer wieder behauptet wird; wenn nach dem Spruch des Zauberspiegels im Märchen vom „Sneewittchen“ (so bei Grimm, nicht Schneewittchen) gefragt wird, wertet man folgende Fassung als richtig:
 
                        Aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen  
                        Bei den sieben Zwergen
                        Ist noch tausendmal schöner als Ihr!
 
Von „sieben Bergen“ ist in dem bei Grimm siebenmal wiederholten Vers keine Rede. Wenn man das korrigiert, sind die Quizmaster sehr erstaunt, daß es sich bei den Antworten der Kandidaten um Zitate aus Ludwig Bechsteins Märchensammlung handelt. Nach schlimmer daneben zielen Fragen nach Inhalt von Rotkäppchens Körbchen: Bei Grimm gibt es ein solches Tragegerät überhaupt nicht, vielmehr wurde dieses Körbchen erst 1857 von Ludwig Bechstein für seine „Rotkäppchen“-Version erfunden.
 
Subtilere Unterscheidungen kann man wohl von solchen Quizprogrammen nicht erwarten, sonst müsste man bei entsprechenden Fragen und Antworten wissen, von welcher Auflage des Grimm'schen Märchenbuchs genau die Rede ist, denn da gibt es zahlreiche Divergenzen. So laufen Fragen nach der Stellung des leibhaftigen Todes am Bett eines Kranken ins Leere, weil diese meist bedeutet, daß der Kranke sterben muß, wenn der Tod am Fußende steht; in einer Auflage steht er desfalls allerdings am Kopfende. Im Märchen vom „Herrn Korbes“ begegnet das vielumrätselte Wort „Bornstange“, das in den ersten Auflagen noch richtig als „Bornstande“ (ausgehöhlter Baumstamm zur Aufbewahrung von Wasser) wiedergegeben ist.
 
Die Ergebnisse solcher Examinierungen sind natürlich über die Grenzen der Märchenforschung hinaus längst Allgemeingut, und die meisten Kandidaten können diese Quizstufe 'Märchen' in der Regel leicht hinter sich bringen.
 
Diese Gegebenheiten lassen indes übersehen, daß es im Bereich von Grimms Märchen tatsächlich immer noch Rätsel gab und gibt, die erst allmählich von der Forschung gelöst werden.
 
Dazu hier nur zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung. Als ich im Rahmen meiner Edition der Grimmschen Märchen zu jedem Text einen Kurzkommentar zu verfassen hatte, war darunter natürlich auch das populäre Märchen „Schneeweißchen und Rosenroth“. Bei der Frage nach der Herkunft eines Textes ist man zuerst auf Grimms eigene Angaben angewiesen. Wilhelm Grimm merkte dazu im Anmerkungsband von 1856 an:
 
            Das Märchen vom undankbaren Zwerg bei Caroline Stahl,
           dessen Inhalt unten wird mitgetheilt werden, habe ich benutzt,
           aber nach meiner Weise erzählt.
 
Mit dieser kargen Angabe hat sich die Märchenforschung lange Zeit zufrieden gegeben, ohne auf mancherlei Merkwürdigkeiten in diesem kurzen Text einzugehen. Die hier angekündigte Inhaltsangabe der Stahl'schen Erzählung findet sich nirgends in den gedruckten Bänden der „Kinder- und Hausmärchen“, wohl aber in einem handschriftlichen Nachtrag Wilhelm Grimms zum Anmerkungsband von 1822, in dem konstatiert wird, es handle sich um eine
 
            gewiß alte Sage […]. Ich habe […] die Beschreibung des Lebens der       
           Kinder u. ihrer Mutter u. die Art wie sie den Bären kennen lernen,  
           hinzugefügt und hier […] für zuläßig gehalten.
 
Das muß zu einer Zeit formuliert worden sein, als die Grimm'sche Bearbeitung und Erweiterung der Stahl'schen Vorlage schon für die nächste Auflage des Märchenbuchs formuliert waren. Obwohl das Märchen bereits lange vor 1856, dem Erscheinungsjahr der Folgeauflage des Anmerkungsbandes, erschienen war, wurde der dadurch gegenstandslos gewordene Hinweis, der Inhalt der Textvorlage werde „unten mitgetheilt werden“ gedankenlos übernommen. Das trug hinsichtlich der Frage nach dem Wann und dem Warum der Grimm'schen Textkonstitution bei. Darüber hinaus macht der singuläre Hinweis auf Wilhelm Grimm als dem einzig für diesen Text Verantwortlichen stutzig, da an allen anderen relevanten Stellen der Anmerkungsbände von „wir“ oder „uns“, nie aber von „ich“ oder „mir“ die Rede ist.
 
Zunächst ging man von einem Erstdruck der Grimm'schen Textfassung in der dritten Auflage des Märchenbuchs im Jahr 1837 aus, in dem sich unter Nr. 161 der Titel „Schneeweißchen und Rosenroth“ findet. Erst später entdeckte man den Erstdruck in der Zweitauflage der Kleinen Ausgabe von 1833, auf den bis dato niemand hingewiesen hatte. Das eigentliche Rätsel bestand trotzdem weiter, denn bereits vor 1833 war die Grimm'sche Fassung nur leicht abweichend in dem 1829 herausgegebenen „Mährchenkranz für Kinder“ erschienen! Ich stand vor einem Rätsel. Hatte Wilhelm Grimm diesen Text 1833 in die eigene Märchensammlung aufgenommen, ohne diese Quelle zu nennen, oder hatte der Herausgeber Johann Heinrich Lehnert, ein evangelischer Pfarrer, Gelegenheit, den Grimm'schen Text schon vor dessen Aufnahme in die Märchenausgabe von 1833 kennenlernen zu können? Beide Möglichkeiten schienen mir unwahrscheinlich, und ich versuchte dementsprechend eine Antwort auf meine Fragen mittels eines öffentlich in einer weltweit verbreiteten Fachzeitschrift im Jahr 1983 Aufruf zu finden. Ich erhielt (bis heute) keinerlei Antwort. Da half mir ein Zufall weiter: In einer Ausgabe von Werken des bekannten schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff wurde an sehr versteckter Stelle zu dessen „Mährchenalmanach auf das Jahr 1827“ angemerkt, daß dieser auch Texte enthalte wie
 
            'das Fest der Unterirdischen' und das 'Märchen von Schneeweißchen        
            und Rosenroth' von Wilhelm Grimm […] der wohl auf Betreiben   
            des Verlags um einen Beitrag gebeten worden war. (In unserer      
           Ausgabe sind diese fremden Texte weggelassen).
 
Auf diesen leicht zu übersehenen Hinweis hat mich seit dessen Veröffentlichung im Jahr 1970 niemand aufmerksam gemacht. Ich habe den Befund in einem Aufsatz von 1986 dargelegt und gründlich kommentiert - und damit auch die Quelle für den Lehnert'schen Text festgehalten - , wobei sich herausstellte, daß es mitnichten der Verlag, sondern Wilhelm Hauff selbst war, der Grimm um einen Beitrag gebeten hatte. Was ihm dann Wilhelm Grimm einschickte und ws er dann seit 1833 selbst in den „Kinder- und Hausmärchen“ ohne jeden Hinweis auf Hauff abdruckte, ist im strengen Sinn kein Volks- sondern ein Kunstmärchen. Das veranlaßte ihn zu der einmaligen Formulierung, er habe das Märchen 'auf seine Weise' erzählt, womit er zugleich seinen Bruder Jacob aus der Schusslinie eventueller Kritik nahm.
 
Die relativ späte Lösung des Rätsels ist natürlich vor 1986 noch nicht in der Märchenliteratur zu „Schneeweißchen und Rosenroth“ berücksichtigt, was bis heute zu immer erneuten Mißverständnissen führt. In seinen viel zitierten Kommentaren bleibt Hans-Jörg Uther noch 1996 und 2008 bei seiner inzwischen längst falsifizierten Datierung, wenn er das Märchen als „das 1837 […] neu eingefügte Zaubermärchen“ einführt. Eugen Drewermann, der bei seinen in weiten Kreisen geschätzten tiefenpsychologischen Interpretationen aus Prinzip philologische Erkenntnisse ignoriert, brachte 1983 sein noch lange in weiteren Auflagen unverändert auf dem Buchmarkt präsente Studie „Schneeweißchen und Rosenrot“ heraus, in der er vorgibt: „Der Text des Märchens ist in der Fassung der ersten Gesamtausgabe der Grimmschen 'Kinder- und Hausmärchen' von 1819 wiedergegeben.“ Diese erschien allerdings schon 1812/15, und weder hier noch in der Zweitauflage von 1819 findet sich eine Spur dieses Märchens.
 
Was Eugen Drewermann damit tatsächlich gemeint haben könnte, gehört nun zu den wirklich unlösbaren Rätseln um Grimms Märchenbuch, da der Autor auf entsprechende Anfragen nicht antwortet.
 
Ein tatsächlich gegebenes zweites Rätsel trieb mich seit 1994 um, als ich in der wichtigsten internationalen Zeitschrift erstmals die Frage nach der Grimm'schen Märchenausgabe Letzter Hand neu stellte, als die man bis dato unhinterfragt die 7. Auflage von 1857 oder die 10. Auflage der Kleinen Ausgabe von 1858 angesehen hatte. Ein kurzer Nachruf Herman Grimms in der Vossischen Zeitung (24. 12. 1859) auf seinen Vater Wilhelm Grimm, der am 16. Dezember 1859 verstorben war, gab mir zu denken. Darin wird nachprüfbar korrekt berichtet, daß Wilhelm Grimm noch auf seinem Sterbebett nicht nur den gerade fertiggestellten Band „D“ des „Wörterbuchs“ in die Hand bekam, sondern auch die druckfertigen Manuskripte einer Akademierede, die er am 15. Dezember hätte halten sollen, sowie einer zweiten Auflage seiner „Freidank“-Edition. Geradezu sensationell aber wirkte auf mich der kurze Hinweis „fertig ferner eine neue Ausgabe der Märchen, die er noch in seinem Bette betrachtete und an die Freunde vertheilte.“ Damit wäre denn wohl eine 8. oder 11. Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ gemeint, von der sich allerdings nirgendwo sonst eine Spur (geschweige denn ein Exemplar) erhalten hat. In vielen Vorträgen über Märchen habe ich in aller Welt auf das Problem hingewiesen und die vielen Hörer gebeten, nach einem solch wunderbaren Exemplar Ausschau zu halten. Auch hier bleib jegliches Echo aus, und ich hatte die Sache eigentlich schon resigniert ad acta gelegt. Nun aber hat Axel Winzer Anfang 2020 in seiner brillanten Kasseler Dissertation „Zur Verlags- und Editionsgeschichte der 'Kinder- und Hausmärchen' der Brüder Grimm“ das Rätsel in minutiöser induktiver und materialreicher Beweisführung vollständig lösen können. Es handelt sich bei Herman Grimms Bemerkung keineswegs um die Erwähnung einer ganz neuen Auflage des berühmten Buches, sondern um einen vom Verlag erst Anfang Dezember 1859 mit neuen Illustrationen durchschossenen, neu aufgebundenen Nachdruck der zehnten Kleinen Ausgabe von 1858, die der Verleger Duncker am 15. 12. 1859 in der Vossischen Zeitung wie folgt anzeigte:
 
            Grimm's Kinder- und Haus-Märchen. 10. Auflage […]
            mit sieben Illustrationen von L. Pietsch.  
 
Natürlich geben alle Grimm'schen Märchen ein Rätsel auf, was ihren Ursprung und vor allem was ihre Bedeutung betrifft: Um Lösungen werden sich Volkskunde und Germanistik weiterhin bemühen müssen, ohne wohl je zu gänzlich stringenten Ergebnissen zu kommen – die philologische Grundlage dazu (genaueste und umfassende Textsicherung) sind jedenfalls für zwei lange Zeit hindurch ungelöste Rätsel inzwischen zweifelsfrei gesichert.
 
 
            © Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021