Im Spannungsfeld der Gegensätze

Der Choreograph Emanuele Soavi im Gespräch mit Anne-Kathrin Reif

von Anne-Kathrin Reif

Foto © Joris Jan Bos

Im Spannungsfeld der Gegensätze
 
Der Choreograph Emanuele Soavi im Gespräch mit Anne-Kathrin Reif
 
Am kommenden Sonntag, 5. September 2021, feiert der Tanzabend FLUT des Kölner Ensembles Emanuele Soavi incompany Premiere in der Oper Köln. Es spielen die Duisburger Philharmoniker unter Leitung von Cecilia Castagneto.
 
Noch während Emanuele Soavi und sein Ensemble an der Choreografie zu dem Projekt FLUT arbeiten, holt sie die Wirklichkeit ein. Angesichts der Flutkatastrophe, die große Teile des Landes und der Welt betroffen hat, wird der Titel jetzt bei vielen Menschen schmerzhafte Assoziationen wecken. Doch das Stück thematisiert keineswegs tagesaktuelle Ereignisse. Vielmehr nimmt der Titel den Gedanken des stetigen Wandels auf, bei dem Überkommenes in Ungekanntes, Neues überführt wird – ein hin und her flutender Prozeß, der Schöpfung ebenso beinhaltet wie Zerstörung. Und er spielt an auf die mitreißende, unerschöpflich scheinende Energie der Musik Ludwig van Beethovens. Denn geplant war das außergewöhnliche Projekt bereits zum Beethoven-Jubiläumsjahr 2020. In dem dreiteiligen Tanzabend werden zwei Schlüsselwerke Beethovens – die 7. Symphonie und das Streichquartett Nr. 8 – mit einer Neuschöpfung des weltweit gefeierten Kölner Elektro-Komponisten Wolfgang Voigt und des Sounddesigners Stefan Bohne konfrontiert. Im Zusammenspiel mit zeitgenössischem Tanz entsteht ein Spannungsfeld der Gegensätze: zwischen Kollektiv und Individualität, Instinkt und Funktionalität, Utopie und Realität.
 

Foto © Joris Jan Bos

Anne-Kathrin Reif sprach im Vorfeld der Premiere mit Emanuele Soavi darüber, wie das Projekt entstanden ist, und was die Zuschauer erwartet.
 
 
Emanuele, erzähl bitte etwas darüber, wie der Tanzabend FLUT überhaupt entstanden ist!
 
Emanuele Soavi: Anlaß war das Jubiläumsjahr 2020 zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. Wegen der Corona-Pandemie konnten wir es erst mit einem Jahr Verspätung umsetzen. Für so ein großes Projekt brauchte es starke Kooperationspartner, und die haben wir glücklicherweise mit den Duisburger Philharmonikern und der Oper Köln an unserer Seite. Mit den Duisburger Philharmonikern haben wir seit 2014 schon drei erfolgreiche Projekte umgesetzt, 2017 kam erstmals die Oper Köln als Kooperationspartner hinzu. Gemeinsam haben wir beschlossen, einen Antrag bei der Beethoven-Jubiläumsgesellschaft zu stellen, über dessen Bewilligung wir uns natürlich riesig gefreut haben.
 
Wie hast du dich dieser Aufgabe genähert? Und wie kamst du schließlich auf das Thema und den Titel FLUT?
 
E.S.: Erstmal habe ich mich wochenlang in die Musik Beethovens vertieft, habe alles angehört. Bei allem hatte ich das Gefühl: Es passiert so ungeheuer viel in dieser Musik – und mit mir. Ich habe eine unglaubliche Energie gespürt, die die Musik verströmt, mitreißend – wie eine große Welle, wie eine Flut. Aus dieser Assoziation hat sich alles Weitere entwickelt.
 
Wenn wir an „Flut“ denken, können die Assoziationen ja sehr gegensätzlich sein. Nach der Ebbe kommt die Flut und ermöglicht Aufbruch, bringt neue Fülle, spült Altes, Überkommenes fort. Oder sie überschwemmt, vernichtet, zerstört, bedeutet Gefahr. Welche Seite hattest du eher im Blick?
 
E.S.: Das ist schwer zu sagen. Manchmal trägt mich die Energie hoch hinaus, manchmal zieht mich ihre Wucht hinab. Letztlich gehören beide Seiten zusammen, man kann das nicht trennen. Auch nach der Zerstörung folgt wieder Aufbruch und Neuanfang. „Flut“ beinhaltet für mich vor allem den unaufhörlichen Prozeß des Wandels.
 

Foto © Joris Jan Bos

In die Probenphase, als die Stückentwicklung noch gar nicht abgeschlossen war, fiel die Flutkatastrophe, die in Teilen unseres Landes aber auch in anderen Weltgegenden verheerende Zerstörungen angerichtet hat. Hat das noch Einfluß auf die Entwicklung des Stücks genommen?
 
E.S.: Natürlich haben uns alle die Ereignisse sehr berührt. Aber einen direkten Einfluß haben sie nicht gehabt. Ich habe mich sogar eher darum bemüht, die Tagesaktualität auf Distanz zu halten. Einen konkreten Bezug herzustellen wäre der Idee des Stücks nicht gerecht geworden. Der Assoziationsraum sollte weiter offenbleiben.
 
Hat dich auch die Person und der Lebensweg Beethovens inspiriert? Findet sich davon etwas im Stück wieder?
 
E.S.: Das Stück hat nichts Biografisches im engeren Sinn, wir bebildern keine Lebensstationen Beethovens. Aber seine Persönlichkeit mit ihrem Temperament und ihrer Neugier, seine Phantasie, auch sein cholerischer Charakter – das alles korrespondiert auch mit diesem Thema der Flut. In diesem Sinne versuchen wir, in jedem der drei Teile der Choreografie etwas von der Person Beethovens aufscheinen zu lassen – „Seele“, „Herz“ und „Kopf“. Wie ein Kaleidoskop von einem Menschen, der sehr komplex ist – sowohl künstlerisch wie psychologisch. Beethoven war in seiner Zeit ein Avantgardist, er hatte einen visionären und kritischen Blick auf die sozialen und politischen Bewegungen seiner Epoche. Diese Haltung soll sich auch im Stück widerspiegeln. Es geht nicht um einen Rückblick auf Vergangenes, sondern vielmehr um eine Brücke in unsere Gegenwart und Zukunft. Deshalb ja auch die Konfrontation der Musik Beethovens mit zeitgenössischer elektronischer Musik von Wolfgang Voigt und Stefan Bohne.
 
 
Wie stehen Musik und Tanz in FLUT überhaupt zueinander? Ist es eine Choreografie auf die Musik – ähnlich wie bei einer klassischen Ballettmusik? Oder eher parallel zur Musik oder gar losgelöst von ihr?
 
Emanuele Soavi: Gerade die 7. Sinfonie von Beethoven mit ihrer starken Rhythmusbetonung kommt von all seinen Werken einer klassischen Ballettmusik wohl am nächsten. Dennoch interpretiert die Choreografie nicht die Musik oder folgt ihr. Der Tanz ist keine Dekoration der Musik, und die Musik dient nicht als Hintergrund für den Tanz. Das gilt genauso für die elektronische Musik im ersten Teil. Tanz und Musik begegnen sich auf Augenhöhe. Der Körper bleibt der Protagonist, aber zusammen mit der Musik. Es ist wie ein Dialog mit einem anderen Menschen: Es geht darum, wie wir miteinander sprechen können – auch wenn wir uns nicht immer verstehen und ohne immer der gleichen Meinung zu sein. Das macht ja auch die Spannung in einem Dialog aus.
 
 
Laß uns noch über die Ebene der Zeit im Stück sprechen. Im ersten Teil des dreiteiligen Abends sieht man ein Szenario, über das die Flut schon hinweggegangen zu sein scheint. Versatzstücke, die von einem Haus stammen könnten, liegen auf der Bühne. Die elektronische Musik verweist auf die Gegenwart oder die Zukunft; Bruchstücke von Beethovens Musik tauchen darin auf wie Treibgut aus der Vergangenheit. Der zweite Teil zur Quartettmusik spielt in einem noch intakten Haus. Der dritte Teil mit der 7. Sinfonie geht zeitlich am weitesten zurück. Verläuft die Zeit im Stück rückwärts?
 
E.S: Ja und nein. Die Stimmung im ersten Teil kann als futuristisch empfunden werden, aber auch als archaisch, als eine Art archäologische Spurensuche. Der zweite und der dritte Teil gehen musikalisch weiter zurück in die Vergangenheit, die Kostüme und die Bewegungssprache sind aber sehr heutig. Die Bühne und die Kostüme von Darko Petrovic spielen dabei jeweils eine wichtige Rolle. Das „Haus“ im zweiten Teil ist vielleicht noch heil, vielleicht ist es aber auch das, was wir nach der Zerstörung aus den Trümmern wieder aufgebaut haben. Es ist zugleich der intimste Teil mit einer mehr privaten Atmosphäre, in der es um Emotionen und um die eigene Identität geht. Im dritten Teil mit der 7. Sinfonie geht es wieder mehr um das Kollektiv – darum, wie ich als Mensch mit anderen lebe. Ich probiere, meine Identität zu erhalten, aber auch meine Energie mit anderen zusammenzubringen. Und die Musik befeuert diese Energie. Darin steckt wieder viel Aufbruch und verweist in die Zukunft.
 
Also handelt es sich im Grunde um eine Kreisbewegung…
 
E.S.: Ja, genau. Es gibt keinen Anfang und kein Ende – so wie auch die Flut kommt und geht und wiederkehrt.
 

Foto © Joris Jan Bos

Choreografie: Emanuele Soavi in Zusammenarbeit mit Federico Casadei, Greta Cecconi, Alice Gaspari, Anna Harms, Taeyeon Kim, Mihyun Ko, Guilherme Leal, Lorenzo Molinaro, Josefine Patzelt, Robin Rohrmann, Joel Small, Ashley Wright. Ausstattung: Darko Petrovic. Musik: Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 7 op 92 / Streichquartett Nr.8 op 59,2, Wolfgang Voigt, Stefan Bohne Elektronische Komposition.

www.emanuelesoavi.de
 
Uraufführung 5. September 2021 um 18 Uhr / Oper Köln, Staatenhaus 2. Weitere Aufführungen: 10.09. (19.30 Uhr) / 12.09. (18 Uhr). www.oper.koeln. Karten: 0221/ 221 28 400 oder per Mail: tickets@buehnenkoeln.de
Duisburg-Premiere 17. September 2021 um 19 Uhr / Theater Duisburg. Weitere Aufführung: 18.09. (19 Uhr). www.theater-duisburg.de. Karten: 0203 / 283 62-100 oder per Mail: karten@theater-duisburg.de