Unschätzbares Glück eines Sinfoniekonzertes

Eröffnungskonzert mit Marlies Petersen unter Stabführung von Patrick Hahn

von Johannes Vesper

Foto © Uwe Schinkel

Unschätzbares Glück eines Sinfoniekonzertes:
Endlich Ohr-in-Ohr mit neuem GMD
 
159. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal:
Eröffnungskonzert mit Marlies Petersen und
glänzendem Einstand von Patrick Hahn
 
Von Johannes Vesper
 
Als das Sinfonieorchester auf dem in den voll besetzten Saal hinein vergrößerten Podium Platz nahm, wurde es vom maskierten Publikum mit ungewöhnlich lebhaftem Applaus begrüßt. Der jüngste Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum, Patrick Hahn, eröffnete die Konzertsaison „mit alpenländischem Charme“ und riesigem Orchester.
 

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Expressive Momente

Erwartungsvolle Stille vor dem ersten Einsatz zu Anton Weberns (1883-1945) 1909 entstandenen ›Sechs Stücke für Orchester‹ op. 6 machte die Spannung, die Erwartungen des Publikums wie die Konzentration des Dirigenten förmlich spürbar. Dabei ist die Atonalität Weberns wirklich kein Publikumsrenner, der gleichwohl als einer der wichtigsten Komponisten der Moderne gilt. Hier aber kamen bei Verzicht auf jede Melodie höchst expressive Momente auf. Mit vier aufsteigenden Sechzehnteln der Soloflöte zu Beginn, dann komplizierten rhythmischen Pizzicati, in der Tiefe grummelndem Ostinato-Schlagzeug, herrlichem Bratschensolo gegen Harfenklänge, spürte der Komponist in den nahezu aphoristisch kurzen Stücken seinen Stimmungen beim Tod der Mutter nach und assoziierte selbst dazu Begriffe wie „Befürchtung, Hoffnung, sie noch lebend anzutreffen, Duft der selbst gepflückten und auf die Bahre gelegten Eriken, Trauermarsch“, der den Klang mit dem unter die Haut gehendem FF-Schluß ungeheuer verdichtet. Für den ernsten und mutigen Einstieg mit einem der wichtigsten Orchesterwerke des 20.Jahrhhunters spendete das Wuppertaler Publikum starken Applaus. Das war bei der Uraufführung am 31.03.1913 in Wien unter Arnold Schönberg anders. Da gab es Tumulte und Ohrfeigen. Deren „Klatschen war noch das Melodiöseste, das man an diesem Abend zu hören bekam“ hieß es bei der späteren Gerichtsverhandlung. Im Hinblick auf solchen Ernst sei die Frage erlaubt: Was hatte Anton Webern mit Charlie Chaplin gemein? Beide spielten und komponierten Solostücke für das Violoncello. Wer hätte das gedacht!
 

Foto © Uwe Schinkel

Marlis Petersen musiziert u.a. mit den Berliner, den Wiener Philharmonikern, ist auf den großen Opernbühnen der Welt zu Hause, hat Patrick Hahn als Dirigent an der Bayrischen Staatsoper kennengelernt. Durch ihren Auftritt an diesem Abend in Wuppertal mit den vier letzten Liedern op. 150 von Richard Strauss (1864-1949) mutierte das Antritts- zu einem Galakonzert. Mit klarer, warmer, substanzreicher, auch in der Höhe strahlender Stimme und eleganten Registerübergängen verzauberte sie das Publikum, vom „mitatmenden“ Orchester durchsichtig und subtil begleitet. Richard Strauss (1864-1940) komponierte dieses, sein letztes komplettes Werk von Ende 1946 - September 1948 nach Gedichten von Hermann Hesse und Josef von Eichendorff. Tod und Abschied vor Augen, zitiert er nicht nur sein eigenes Orchesterstück „Tod und Verklärung“, sondern auch das Brahmssche Deutsche Requiem. In heiterer Endzeitstimmung zwitschern Lerchen im seligen Frühling, wird das Sommerende betrauert und nach beglückendem Pianissimo beschließt das Horn liedartig über einem Orgelpunkt das „September“- Gedicht. „Beim Schlafengehen“ (3. Gedicht) wird die in „freiem Flug unbewacht schwebende Seele“ des Soprans von der herrlichen Sologeige (Neu im Orchester Konzertmeister Nicolas Koeckert!) über zartem Klangteppich des Orchesters begleitet. Mit prächtigem Orchesterklang wird endlich das „Abendrot“ sozusagen hörbar. Der Tod als Erlösung? Hermann Hesse distanzierte sich von Richard Strauss und seiner eigentlich doch herrlichen Musik, fand die Lieder wie alle Strauss-Musik „virtuos, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck“. Nicht so das Publikum. Nach ersterbenden Piccolo-Trillern und langem Schluß-Diminuendo wurde die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert. Blumen gab es und eine Umarmung des Dirigenten.
 

Foto © Uwe Schinkel


Mit Donnerblech, Windmaschine und Heckelphon

Nach der Pause gab es dann die Alpensinfonie von Richard Strauss (op. 64, Uraufführung 1915 ), Tongemälde für Kuhglocken, Donnerblech, Windmaschine, Heckelphon (eine Art Bassoboe mit dem Klangvolumen des Alphorns) und 129 Musikern in der Optimalbesetzung, in Wuppertal immerhin 94. Bei diesem End- und Schlußpunkt der sinfonischen Dichtungen des 19. Jahrhunderts (obwohl erst 1915 uraufgeführt) schreckte der Komponist vor nichts zurück. Entsprechend betrug sein Honorar dafür 100.000 Mark (heute Kaufkraft 410.000,- €). Seine Wanderung als 15jähriger von Murnau aus auf einen der umliegenden Gipfel, um den Aufgang der Sonne dort oben zu erleben ist das Thema. Das Gewitter beim Abstieg hat er „am nächsten Tag auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalerei und Schmarrn (nach Wagner)“  - schrieb er selbst an den Komponistenfreund Thuille. Aber von Nietzsches philosophischen Bergeshöhen angetan, komponierte er nicht nur „Zarathustra“ sondern hätte ihm beinahe auch mit dieser Sinfonie gehuldigt, wollte sie „Antichrist - eine Alpensinfonie“ nennen. Das Christentum ablehnend, suchte er hier sein Heil in orchestraler Ekstase. Die Raffinesse, wie das Morgenlicht langsam heraufdämmert, die Sonne plötzlich hinter der Berg-Silhouette im ff hervorbricht, die Farbigkeit und Differenziertheit der Instrumentation frappiert. Fernbläser bei geöffneten Saaltüren aus dem Foyer heraus wie auch das herrliche Oboensolo bei der Ergriffenheit des Bergsteigers auf dem Gipfel verfehlten ihr Wirkung nicht. Dann Stille vor dem Sturm mit einzelnen Vogelrufen, und ein Jahrhundertunwetter mit Sturm und höchstbedrohlichem Gewitter bricht los. Sturm dank Windmaschine und schwerarbeitenden Streichern, Starkregen dank virtuos herabstürzender Holzbläserkaskaden, Blechchaos, knallendes Schlagzeug. Der Zuhörer ist geneigt, hinter dem Vordermann Schutz zu suchen, und froh, daß die Statik der Stadthalle dieser Urkatastrophe standgehalten hat. Im Zentrum des Geschehens, auf dem Dirigentenpult ordnet Patrick Hahn souverän den gesamten Apparat, der hier zu erstaunlicher Hochform aufläuft. Insgesamt folgte das Orchester konzentriert und aufmerksam dem eher sparsamen, nur selten ausgreifendem, sorgfältigen Dirigat des Neuen, der mit Blickkontakt exakt Einsätze gibt aber andererseits den Musikern Freiheit wie Raum für packende Musik läßt. Das Gewitter klingt endlich ab. Die Orgel kommt dazu und von einem Orgelpunkt zum nächsten breitet sich abendliche Ruhe aus, zuletzt sinkt die Nacht herab. Lange Stille, Ergriffenheit! Dann bricht leidenschaftlicher Applaus los. Mit klatschenden Händen und trampelnden Füßen, mit Bravi-Bravissimi und stehenden Ovationen, mit Blumen natürlich reagierte bezüglich Lautstärke und Länge das Publikum völlig adäquat auf das Werk. Strauss hätte den Beifall nicht besser instrumentieren können. Immer wieder mußte Patrick Hahn auf die Bühne kommen. Fast drohte als Zugabe eine Wiederholung des Stückes. Jedenfalls ein großer Konzertabend, ein Antrittskonzert, nach welchem sich das Publikum auf die kommende Konzertsaison freuen darf.
 
Außerdem: In den schmalen Programmblättern bietet Lutz-Werner Hesse Informationen zu Werken und Interpreten in bekannter Qualität. Besonders geschätzt werden auch die am Rand kleingedruckten Hinweise auf Uraufführung, Dauer, letzte Aufführung des betreffenden Werkes im Saal und Besetzung.