Das Stück der großen alten Männer

Herman Melvilles ›Moby-Dick‹ in der Bühnenfassung von Robert Sturm

von Frank Becker


Danse macabre
 
Das Stück der großen alten Männer
 
Herman Melvilles ›Moby-Dick‹ in der Bühnenfassung von Robert Sturm
Originalmusik: Alexander Balanescu
Texte: Herman Melville in der Übersetzung von Matthias Jendis
 
Komposition: Alexander Balanescu – Inszenierung: Robert Sturm - Musikalische Leitung: Werner Dickel - Regieassistenz, Inspizienz: Barbara Büchmann – Bühne: Tony Cragg – Kostüme: Aniko Elias – Lichtkonzept: Fredy Deisenroth - Eva Rini May (Videoregie und Produktion) - Will-Jan Pielage (Sounddesign) - Jean Laurent Sasportes (Bewegung)
 
Schönberg-Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Wuppertal:
Sänger: Anna Christin Sayn (Sopran) - Hasmik Muradyan (Mezzosopran) - George Clark (Bariton)
Violinen: Sofia Chelidoni, Tomas Ionescu, Sophia Oertel, Emanuel Rauch - Viola: Marina Eichberg, Maria Garcia Sanchez, Gijoon Jo, Alejandro Vega - Cello: Mufei Feng, Sebastian Lara, Ana Catarina Pimentel Rodrigues, Elektra Stevi - Kontrabaß: Carlota Ramos, Juan Sánchez Granados - Schlagzeug: Franz-Josef Staudinger - Alexander Balanescu (Violine)
 
Besetzung: Luise Kinner (Ismael) - Jörg Reimers, Bernd Kuschmann, Pierre Siegenthaler (Ahab, Starbuck, Queequeg) - Jan Minarik, Jean Laurent Sasportes, Mark Sieczkarek, Ed Kortlandt (stumme Rollen)
 
Eine Parabel auf die menschliche Hybris
 
Den haßerfüllten Kampf eines Mannes gegen die Gewalten der Natur in Gestalt eines Leviathan, des weißen Wals, den er „Moby Dick“ nennt – von Herman Melville 1851 im gleichnamigen Roman synonym für die Hybris der Menschheit gestellt – auf eine Bühne zu bringen erfordert Wagemut. Den hat Robert Sturm in seiner aktuellen Wuppertaler Inszenierung aufgebracht. Ein Schiff, nun gut, das läßt sich im Bühnenbild darstellen. Eine Mannschaft aus groben Kerlen samt Schiffsjungen zusammenzustellen, wird mangels Ensemble-Auswahl der Wuppertaler Bühnen schon schwieriger, ist aber mit Gästen hinzubekommen. Aber woher das Meer nehmen, das im Roman und der einzig gültigen Verfilmung von John Huston (1956) eine Hauptrolle spielt? Die Lösung ist die Bühnenmusik, für diese Inszenierung von Alexander Balanescu komponiert und von Werner Dickel souverän geleitet – ein Geniestreich.
 
Im Jahr 1841 heuern der Schiffsjunge Ismael (Luise Kinner) und der Harpunier Quueequeg auf dem Walfänger „Pequod“ unter dessen 1. Offizier Starbuck und dem geheimnisvollen Kapitän Ahab an. Was die Mannschaft, die auf guten Verdienst für harte Arbeit aus ist, nicht ahnt, ist der eigentliche Plan des Kapitäns, um jeden Preis, und sei es der Tod, den Wal zur Strecke zu bringen, der ihn einst an Leib und Seele verkrüppelte. Es ist wohl Allgemeinwissen, daß dieser Plan nicht aufgeht, sondern allen außer Ismael den Tod bringt.
 
Aus vielen Gründen ein Leckerbissen
 
Aus zahlreichen Gründen ist die Inszenierung, die nahe am Begriff der Sprechoper am vergangenen Samstag in den Wuppertaler Riedel-Hallen ihre Uraufführung erlebte – die räumlichen Verhältnisse des städtischen Theaters am Engelsgarten hätten es nicht hergegeben – ein Leckerbissen. Der erste und wichtigste ist die oben erwähnten Bühnenmusik an, deren Vergleich mit Ennio Morricones grandioser Filmmusik zu „Spiel mir das Lied vom Tod“ (C’era una volta il West) in Passagen durchaus angemessen ist. Alexander Balanescu (u.a. Der Kontrakt des Zeichners, Verschwörung der Frauen) ist es gelungen, die Weite des Meeres, dessen Unerbittlichkeit und die Dramatik der im wesentlichen ausgezeichnet rezitierten Handlung in Klänge von großem Rang zu fassen. Die Umsetzung durch Werner Dickel als sensiblem Dirigenten des unerhört inspirierten Schönberg-Ensembles der Wuppertaler Hochschule für Musik tat das ihre, woran nun wieder der dreistimmige Chor einen wesentlichen Anteil hatte, allen voran die wunderbare Sopranistin Anna Christin Sayn, deren Gesang tief unter die (Gänse-)Haut geht.

Dann hat der Bildhauer Tony Cragg, derzeit auf Platz 7 der weltweiten Rangliste der wichtigsten zeitgenössischen Künstler des Kunstkompass, ein Bühnenbild geschaffen, das sich eng an die Meta-Ebene der Intention der literarischen Vorlage hält, indem er den Schiffskörper  der Pequod als aufgerissenen Korpus darstellt, dessen Querspanten wie die Rippen eines Wals geschnitten sind. Ausgeleuchtet in Sturm, Wogen und Elmsfeuer nach dem Lichtkonzept von Altmeister Fredy Deisenroth – wer kennt ihn nicht als Meister des Lichts in zahlreichen Inszenierungen schon der Wuppertaler Bühnen der Ära Holk Freytag – ist dieses gewaltige Bühnenbild höchst effektvoll.
 

v.l.: Bernd Kuschmann, Ed Kortlandt, Jan Minarik (vorne), Jörg Reimers - Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker / Wuppertaler Bühnen (Scan des Programmheft-Titels)


Die Phalanx der großen alten Männer
 
Womit wir beim dritten Aktivposten sind, der Besetzung. Es ist durch die bewußte Auswahl der Schauspieler und Tänzer ein Stück der großen alten Männer geworden. Jörg Reimers, Bernd Kuschmann, Pierre Siegenthaler, einer wie der andere eine wirkliche Hausnummer des Schauspiels in Wuppertal, Düsseldorf und anderswo, gehören zu den Besten der Bühne. Und es braucht auch drei Männer, um die faszinierende Leistung von Gregory Peck in der bis heute maßgeblichen Verfilmung aufzuwiegen. Die rauhen Kerle mit markanter Sprachkultur und dazu die die lichte Stimme der federleicht agierenden Luise Kinner als Schiffsjunge - vielleicht ein wenig zu heiter angelegt - verleihen den im Großen und Ganzen en face zum Publikum rezitierten Textauszügen in der Übersetzung von Matthias Jendis die Gewalt und inhaltliche Tiefe, derer es bedarf. Es ist ein Genuß, diese wunderbaren Schauspieler zusammen zu erleben.

Dazwischen sowie zwischen Tampen und Tauen wuseln vier ebenfalls alte, zur Garde des Tanzes gehörende Männer: Jan Minarik, Jean Laurent Sasportes, Ed Kortlandt und Mark Sieczkarek in stummen Rollen und zum Teil verzichtbaren Tätigkeiten. Deren Bedeutung und Tun, außer da zu sein, erschließt sich meist nicht, mal abgesehen vom Danse macabre Jan Minariks mit Luise Kinner im Angesicht der Katastrophe und dem vergeblichen Zerren des Hünen an einem Rettungsboot, das auch gut aus einer Inszenierung von Pina Bausch hätte stammen können. Mark Sieczkareks gefühlt zehnminütiges Solo ganz zum Schluß (eigentlich ja nach dem Schluß) ist hingegen völlig überflüssig und zieht das Stück – wie auch manch andere wortlose Momente und wiederholte sinnfreie Bausch-Bewegungen im zweistündigen Verlauf des Abends (keine Pause) – unnötig in die Länge. Auch das Hantieren mit dem Tauwerk, das Knoten, Spleißen, Takeln, Fieren und Hieven, der Umgang mit Törn und Talje könnte noch mal geübt werden.
 
Lohnend
aber ist ein Besuch dieses „Moby Dick“ allemal - und er macht Appetit darauf, das Original wieder einmal zu lesen.

Vorstellungen gibt es noch am:  5., 7., 8., 10., 11., 12., 17., 18., 19. September.

Informationen und Eintrittskarten → hier