„Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“

Vor 210 Jahren starb der Dichter Heinrich von Kleist

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Die Wahrheit ist,
daß mir auf Erden nicht zu helfen war“
 
Vor 210 Jahren starb der Dichter Heinrich von Kleist
 
Von Heinz Rölleke
 
d[atum]. - am Morgen meines Todes“ unterschrieb Kleist den Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike, bevor er sich wenige Stunden später, am 21. November 1811, das Leben nahm. Mit der Präteritumform „zu helfen war“, die das präsentische „die Wahrheit ist“ gleichsam für immer perpetuiert, grüßte er brieflich schon aus dem Jenseits. Man wird Ursache und Anlaß für den selbstgewählten Tod des 34-jährigen Genies nie ganz aufhellen können. Mit Hinweisen auf sein Scheitern bei der Planung, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, oder auf die mangelhafte Anerkennung seiner schlechthin meisterhaften Dichtungen durch die zeitgenössischen Leser und Theaterbesucher wie auch durch Medien und vor allem namhafte Zeitgenossen kann man offenbar nur einzelne Aspekte zur Erklärung des tragischen, im vollen Bewußtsein und in einer fast schon überirdisch zu nennenden heiteren Stimmung geplanten und vollzogenen Suizids nennen. Warum soll diese zuletzt ausgesprochene „Wahrheit“ für immer Bestand haben? Der tiefste Grund für Kleists freiwilligen Abschied von seinem irdischen Leben ist eindeutig umfassender und wahrscheinlicher als alle vereinzelten Erklärungsversuche.
 
Kleist wurde 1777 in Frankfurt an der Oder geboren. Von 1792 bis 1799 versuchte er vergeblich, eine seinem Stand gemäße Karriere im Garderegiment Potsdam aufzubauen. Um 1800 begann er seine schriftstellerische Laufbahn, wobei er schon in seinen Anfängen eine tiefe Sinnkrise zu bewältigen suchte. In Briefen vom März 1801 schreibt er, wie die Lektüre Kants ihn daran endgültig verzweifeln läßt, daß der Mensch je ein rationales, eindeutiges Weltbild gewinnen könne (die lange im Mittelpunkt der Forschung stehende „Kant-Krise“, durch die er sein bisheriges Weltbild unheilbar zerrüttet sah):
 
            „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen,           
            wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint […]. Mein  
            einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken ich habe nun keines mehr.“
 
1802 entsteht sein großartiges Dramenfragment „Robert Guiskard“, gleichzeitig das bis heute meistgespielte deutsche Lustspiel „Der zerbrochne Krug“; später veröffentlichte er fünf weitere Dramen und mehrere hochgeschätzte Prosadichtungen wie etwa „Michael Kohlhaas“ oder „Das Bettelweib von Locarno“. Sein Essay „Über das Marionettentheater“ gilt als ein Schlüssel für sein Denken und Dichten. Überall ist die bohrende Frage nach absoluten, unbezweifelbaren Erkenntnissen zu spüren, deren Beantwortung ihm schließlich als völlig  unmöglich erschien. Aus der von Kleist gewählten Metaphorisierung dieser Problematik erhellt eindeutig, daß es sich bei dem jungen Dichter auch und vielleicht sogar eher um eine Fichte- als eine Kant-Krise handelt, die er durch Übernahme eines berühmten Fichte'schen Bildes sich und andern klarzumachen versucht:
 
            „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so       
            würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch           
            erblicken, sind grün.“
 
Die grünen Gläser sind eine Metapher für die Unangemessenheit der jeweils entschieden subjektiven Vorstellung der Erkenntnisgegenstände. Wenn man a priori und unwandelbar alles grün sieht, zeigen sich die Dinge nie, wie sie sind.
 
Bei Fichte heißt es kurz und bündig:
 
            „Was wir erblicken, ist immer das gefärbte Glas, durch welches    
            hindurch wir es allein ansehen können.“
 
Die wirklichen Gegebenheiten können nie objektiv wahrgenommen werden; alle Erkenntnis bleibt subjektiv, und die Frage, was ist Wahrheit, bleibt ewig unbeantwortet.
 
Welch radikale Gegenposition zu seinen dichterischen Zeitgenossen Kleist damit vertritt, können einige ihrer diesbezüglichen Aussagen verdeutlichen, die einheitlich auf die „Grenzen der Menschheit“, das heißt auch auf die dem Menschen gesetzten Schranken vor der Beantwortung bestimmter Fragen, verweisen, indem sie diese anerkennen.
 
            Lessing: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner           
            Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit         
            dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und       
            spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm in Demut in seine Linke und            
            sagte: Vater, gieb! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ 
 
            Goethe: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das   
            Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu          
            verehren.“
 
            Schiller: „Und der Mensch versuche die Götter nicht / und begehre          
            nimmer und nimmer zu schauen, / was sie gnädig bedecken mit    
            Nacht und Grauen.“
 
Viele der Kleist'schen Figuren verzweifeln und scheitern, weil sie die dem Menschen gesteckten Erkenntnisgrenzen nicht anerkennen, so daß auch ihnen  - wie schließlich dem Autor selbst -  „auf Erden nicht zu helfen“ ist.
 
In der Novelle „Das Bettelweib von Locarno“ (1810) steht das Thema noch einmal im Mittelpunkt. Der Marchese hat einmal ein Bettelweib, dem seine Frau Unterkunft gewährt und für die Nacht ein Strohlager bereitet hatte, etwas unwirsch angewiesen, sich auf einen anderen Schlafplatz am Ofen zu verfügen. Die Bettlerin brach damals tödlich zusammen, ehe sie den durch eine Armgeste angezeigten Ort erreichte. Nach Jahren, als der Marchese diesen Vorfall längst völlig vergessen hatte, glauben ein zufälliger Besucher und vor allem er selbst plötzlich, ein Geräusch in dem bewußten Zimmer zu vernehmen, das sich für ihn wie eine Wiederholung des damaligen Unfalls anhört. Durch ein „entschiedenes Verfahren“, sodann durch eine „kaltblütige Prüfung“ versucht er „der Sache auf den Grund zu kommen.“ Als aufgeklärter Kopf  kann er die Ursache und die Bedeutung dieser Imagination nicht identifizieren. Er verbringt einige Nächte in dem ominösen Zimmer, hört jeweils um Mitternacht das rätselhafte Geräusch deutlich nah bei sich, sieht aber nichts. Schließlich verbringt sein Haushund dort zufällig noch eine Nacht mit ihm zusammen; um Mitternacht hört man jemanden,
 
            „den kein Mensch mit Augen sehen kann
            […] und mit dem ersten       
            Schritt: tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die
            Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad'
            als ob ein Mensch auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den
            Ofen weicht er aus.“
 
Daraufhin ergreift der Marchese seinen Degen, und indem er „Werda?“ ruft, durchhaut er wie ein Rasender „nach allen Richtungen die Luft“, und „von Entsetzen überreizt“ zündet er „müde seines Lebens“ das holzgetäfelte Zimmer an und verbrennt darin.
 
Die verzweifelte Frage ist der einzige und zugleich der letzte in direkter Rede berichtete menschliche Laut. „Doch wie ganz hilflos flattert das 'Werda?' im Gestänge des Satzes auf“, schreibt Emil Staiger in meisterhafter Formulierung. Die Frage findet keine Antwort. Die scheinbare oder wirkliche Anwesenheit eines Geistes (wenn, dann die der in dem fatalen Zimmer vor Jahren umgekommenen Bettelfrau) läßt sich nicht sicher feststellen – ganz anders als in ähnlichen Situationen in Mozart / da Pontes „Don Giovanni“ oder in Shakespeares „Hamlet“, auf die Kleist sehr subtil anspielt, und die in Zeiten spielen, als man noch ohne Zweifel an die Wiedererscheinung Verstorbener glaubte. Das onomatopoetische „tapp! tapp!“ zitiert Leporellos Nachahmung des schweren Schrittes in der Geistererscheinung des Komturs („tap, tap, tap, tap!“) in der 14. Szene des 2. Aktes der Oper. Der hilflose Ausruf des Marchese „Werda?“ entspricht dem ersten Wort in Shakespeares „Hamlet“: So fragt Bernardo auf der Schloßterrasse, wo der Geist von Hamlets Vater umgeht und auch nun alsbald erscheint. Dieser ist ermordet, der Komtur von Don Giovanni im Duell getötet worden. Das Bettelweib von Locarno ist ebenfalls eines unversehenen Todes gestorben – doch der Marchese bezieht die unidentifizierbaren Geräusche nicht auf diesen von ihm längst vergessenen Vorfall.
 
Der scheinbare oder wirkliche Spuk wird anscheinend entgegen aller menschlichen Vernunft von einem Hund bestätigt – einem Tier, das dem Volksglauben jahrhundertelang als gespenstersichtig galt; das heißt, man schrieb ihm die Fähigkeit zu, die Anwesenheit unsichtbarer Gespenster mit Angst zu wittern. Eine um 1500 spielende Sage berichtet von einem Kanzler namens Kleist(!) auf Usedom, dem ein Gespenst erschienen war. Sein Hund hatte gewinselt und geheult und war vor der Erscheinung geflüchtet.
 
Das Tier scheint hier für die existenzielle Frage des Marchese zuständiger als der Menschenverstand: Mit seinem Verhalten scheint es offensichtlich die Existenz eines Gespenstes zu bestätigen. Diese Fähigkeit der Kreatur muß der Marchese wider alle aufgeklärte Vernunft anerkennen, und diese Erkenntnis  läßt ihn „verzweifeln und irre werden am Wesen und Sinn der Welt“ (Emil Staiger). Daraufhin zerstört er selbst sein ihm sinnlos erscheinendes Leben, das nie endgültige Antwort auf die Fragen gibt, ob Spuk und Gespenster wirklich existieren, ob es einen Geisterraum gibt, in dem die leichtesten Vergehen unverrückbar erinnerlich sind und bleiben, und  das schließlich das größte existenzielle Problem,  ob es einen Gott gibt, nicht löst.
 
Der Marchese hat sich nach Meinung der klassischen Dichter mit seinen unaufhörlich bohrenden Fragen in einen Bereich gewagt, der ihm unzugänglich und unzukömmlich ist, denn für die Erhellung dieser letzten Themen ist die menschliche Vernunft nicht ausgerüstet. Dieser Bereich ist, wenn überhaupt, nur dem Glauben vorbehalten. Kleist meinte zuletzt, er habe diese scheinbare Sinnlosigkeit durchschaut: Dem Menschen ist ein Trieb eingeboren, auch das Unerforschliche zu durchschauen, und zugleich sind ihm die Mittel dazu auf ewig verwehrt. Der unauslöschliche Drang zu einer endgültigen Antwort auf die für den Dichter alles entscheidenden Fragen nach der Beschaffenheit und dem Sinn der menschlichen Existenz erwies sich zuletzt für Kleist als unerfüllbar, und er zog als 34-jähriger einen Schlußstrich unter sein Leben, das er schon zehn Jahre zuvor als letztlich ziellos durchschaut zu haben glaubte: „Mein höchstes Ziel ist gesunken ich habe nun keines mehr.“
 
Goethe hat einmal mit „Schauder und Abscheu“ von Kleists heillosem Leben und Werk gesprochen. Dessen innovative Dichtungen hielt der Klassiker für eine Verirrung. Das vergebliche Streben, dem schlechthin Unerforschlichen rational beizukommen, sah er geradezu (und man könnte sagen mit Recht) als lebensgefährlich an. Für die sensationelle Modernität der Kleist'schen Dichtungen hatte er keinen Sinn: Den von ihm in Weimar mit großem Mißerfolg uraufgeführten „Zerbrochnen Krug“ hielt er für verfehlt und unspielbar, der Antikenrezeption in „Amphitryon“ und „Penthesilea“ hat er noch im Alter mit einer bösartigen Anspielung auf den Namen  'Kleist' („über-kleist-ern“) eine verdeckte Abfuhr erteilt. In „Faust II“ (v. 7087-7089) äußert Mephisto sein Mißfallen an einer fehlschlagenden Verlebendigung der Antike:
 
                        „Doch das Antike find' ich zu lebendig;
                        Das müßte man mit neustem Sinn bemeistern
                        Und mannigfaltig modisch überkleistern.“
 
Solche Kritiken und Mißverständnisse selbst der mit Kleist befreundeten romantischen Schriftsteller wie Tieck, Arnim, Brentano oder die Brüder Grimm sowie des zeitgenössischen Publikums verhinderten eine angemessene Rezeption des neben Schiller bedeutendsten deutschen Dramatikers. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten einige moderne Dichter, wie Rilke, Hofmannsthal, Kafka und besonders die Expressionisten (bezeichnenderweise Else Lasker-Schüler erhielt den Kleist-Preis) den Dichter für sich, ehe die Germanistik und eine neue Leserschaftsgeneration den fast vergessenen Dichter von singulärem Rang angemessen zu würdigen und zu schätzen begann. Im Ausland, vor allem in Frankreich, erlebte Kleist nach dem Zweiten Weltkrieg die ihm zukommende Anerkennung.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021