Das kleine Abbild des großen Fußballsports

Der Sportwissenschaftler Eckart Balz über das generationenübergreifende Gesellschaftsspiel „Tipp Kick“

von Uwe Blass

  Werbemotiv aus den 1950ern - © Tipp Kick
Jahr100Wissen
 
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben.
 
Das kleine Abbild des großen Fußballsports
 
Der Sportwissenschaftler Eckart Balz über das generationenübergreifende Gesellschaftsspiel „Tipp Kick“




Der Möbelfabrikant Carl Mayer meldete das Spiel Tipp Kick am 15. September 1921 zum Patent an. Um welches Spiel handelte es sich dabei?
Balz: Tipp Kick ist ein echter Klassiker. Ich habe auch eigene Spielerfahrungen damit. Das ist über Generationen hinweg ein Familienspiel, das ich früher mit meinem Bruder und auch mit unseren Kindern gespielt habe. An der Uni Bielefeld, wo ich gearbeitet habe, war es sogar in der Sportwissenschaft ein Kultspiel, das auf Exkursionen immer zum Einsatz kam. Aus sportpädagogischer Sicht würde ich sagen, es ist so etwas wie Fußball im Kleinen: Hier wird der große Fußballsport nachempfunden und zwar im Format eines Gesellschaftsspiels. Die Idee ist, wir können zu Hause am Tisch Tipp Kick Fußball spielen. Da sind wir natürlich im Bereich der Spielwarenindustrie, und Tipp Kick ist ein Spiel, das gekauft wird.
 
 
  © Tipp Kick

Was ist der Unterschied zum Kicker?
Balz: Vielleicht zunächst die Gemeinsamkeiten: Bei beiden geht es um den Torabschluß, und auch ein bißchen um Verteidigung. Tipp Kick hat diesen Torwart, den man auch auf die Seite legen kann, und beim Kicker kann ich hinten mit dem einzelnen Torwart, bevor dieser Schacht kommt, verhindern, daß dieser Ball da einschlägt. Also das Wesentliche des Fußballspiels, Tore schießen und Tore verhindern, kommt in beiden Spielen vor. Rein äußerlich betrachtet gibt es schon einen Unterschied, weil ich in der Regel an einem Kicker im Freibad oder im Jugendzentrum stehe, auch pro Mannschaft zu zweit stehe, während man beim Tipp Kick in der Regel sitzt. Wir haben es früher auch auf dem Boden liegend gespielt, das geht ganz wunderbar, wenn man diese grüne Fläche dort ausbreitet. Da spielt man allerdings eins gegen eins.
Wenn man sich den Spielfluß anschaut, würde ich sagen, es besteht auch ein Unterschied in der Dynamik. Das Tipp Kick-Spiel lebt sehr viel stärker von der ruhigen Präzision, man muß den zurechtgelegten Ball sehr genau treffen. Das Kickerspiel lebt eher von der Geschwindigkeit, da geht es rauschend hin und her.
 

 Bundesliega 1964 © Tipp Kick

Der Exportkaufmann Edwin Mieg erwarb die Rechte 1924 und machte einen Verkaufsschlager daraus. Ein zweiter Boom setzte dann nach der gewonnenen WM 1954 ein, nach der der Torwart in Anlehnung an den Fußballgott Toni Turek den Namen „Turek“ erhielt. Der Ball in diesem Spiel ist aber nicht rund. Warum?
Balz: Ja (lacht), der Ball im Fußballsport ist rund, weil rollend um ihn gekämpft wird und zwar einmal rein körperlich in Zweikämpfen, aber auch taktisch mit dem besseren System. Das ist natürlich bei einem nachgeahmten Spiel, wo in diesem Fall Bleifiguren

Edwin Mieg - Foto © Tipp Kick
aufeinandertreffen, schwer möglich. Deswegen ist als ergänzende Idee dieser zwölfeckige Ball dazugekommen, mit dem man eine andere Lösung gefunden hat. Es ist ein halbierter Ball, der auf der einen Seite schwarz und auf der anderen Seite weiß ist, und durch die jeweilige Art, wie er rollt und liegen bleibt entscheidet, wer am Zug ist. Das wird nicht über den Zweikampf oder über eine Mannschaftstaktik entschieden, sondern über den Zufall. Und das macht es interessant.
Man muß am Anfang auch die Ballfarbe wählen, das kann man per Los machen, die dann in der zweiten Halbzeit mit der Spielfeldseite wechselt. Damit ist äußerlich betrachtet, für Gerechtigkeit gesorgt. So rückt beim Tipp Kick etwas in den Vordergrund, was beim normalen Fußballsport nicht eine so große Bedeutung hat, nämlich der Faktor Zufall, Glück oder Pech. Natürlich habe ich den im Fußballsport auch, wenn der Ball unter die Latte geht oder auf die Linie springt und nicht reingeht, das ist nicht steuerbar. Aber hier ist über das Rollen des Balls, wenn ich ihn in eine gute Position schieße, und er dann doch nicht auf meiner Farbe zu liegen kommt, ein Zufallsfaktor dabei, den ich nie planen kann. Dadurch gewinnt das Überraschungsmoment an Bedeutung. Das ist etwas, was Menschen immer fasziniert hat, und daher wird das Spiel auch bis heute gekauft.
Neben Toni Turek gab es auch eine Zeitlang Gerd Müller als Coverbild. Der Erfolg des Spiels korreliert meist mit den Erfolgen der Nationalmannschaft. Verkaufszahlen werden immer höher, wenn Deutschland gut spielt bzw. gewinnt.

 
  1968 © Tipp Kick
 
Die Figuren wurden im Laufe der Jahre zu präzisen Kickern entwickelt, wobei das rechte Schußbein heute an eine Prothese erinnert. Aus welchem Grund?
Balz: Na ja, man muß sagen, das Standbein ist natürlich noch wesentlich steifer. Die Figur beim Tipp Kick hat ja unten so einen kleinen Sockel daran befestigt aus Blei, früher war das mal Blech, ist das Standbein, damit die Figur steht. Aber irgendwie muß ja geschossen werden und das, was jetzt hier Prothese genannt wird, ist das Schußbein. Das muß schwingen können, das ist die Prämisse. Ohne eine Schwingung, also ein Ausholen nach hinten, indem ich diesen Knopf am Spielerkopf hochziehe und runterdrücke, kann keine Schwungbewegung entstehen. Die muß aber da sein, damit der Ball geschossen werden kann.
Es ist interessant zu sehen, wie sich die heutigen Spielfiguren, nicht nur vom Material, Blech/Blei, sondern auch von der Art und Weise, wie der Fuß geformt ist, weiterentwickelt haben. Das kennen wir ja in allen Bereichen des Sports, Ausdifferenzierungsprozesse, und die findet man auch beim Tipp Kick. Da ist der Fuß nicht rund, sondern so fein glatt, da kann man dann besser mit lupfen. Zudem ist er ist stabiler, so daß man auch noch strammer damit schießen kann. Es wird immer nur eine Figur benutzt, aber die kann man auch austauschen, je nachdem, welcher Schuß ansteht. Die Schußtechniken sind mittlerweile fantastisch ausgefeilt und führen dann auch manchmal zu spektakulären Torerfolgen.


Tipp Kick 1970er Turnier 70er - © Tipp Kick

Tipp-Kick wird nach dem Vorbild des originalen Fußballs in Ligen gespielt. Seit 1959 werden alle zwei Jahre Deutsche Einzelmeisterschaften veranstaltet und seit der Frauenfußball-WM 2011 gibt es auch weibliche Figuren. Was ist so faszinierend an diesem Fingerfußball?
Balz: Insgesamt wird Sport als ein Faszinosum unserer Zeit bezeichnet, und wir in der Sportwissenschaft halten ihn für einen gesellschaftlich wichtigen Teilbereich. Das Faszinierende besteht sicherlich darin, daß anders als im gesellschaftlichen Leben das psychisch Beanspruchende etwas in den Hintergrund rückt und das physisch Beanspruchende in den Vordergrund. Man kann sich austoben, spielen, sozusagen die alltäglichen Belange vergessen und ganz im Spiel aufgehen. Das kann man hier im Kleinen beim Tipp Kick auch. Es ist das verkleinerte Abbild des großen Fußballsports, wo man alles herum vergisst und nur noch im Spiel aufgeht. Wenn das nicht so wäre, dann hätten sich nicht mittlerweile 40 Vereine, eine Bundesliga und ein deutscher Tipp Kick-Verband gegründet. Durch Vereins- und Verbandswesen ist dieses Gesellschaftsspiel entsprechend strukturiert und organisiert worden.  Es ist natürlich auch durch Figuren wie Turek oder Müller die Möglichkeit einer aktiven Identifizierung mit dem Sport und dessen Idolen gegeben. Man kann die Figuren auch in Mannschaftsfarben von Schalke oder BVB kleiden und es von der Nationalebene beliebig herunterbrechen. Man identifiziert sich dann mit den Figuren, für die man steht, mit denen man mitfiebert und am Tisch spielt man das sozusagen nach.
Wir nutzen es im Übrigen auch für die Spielvermittlung in der Universität. Wir haben ein Spiel entwickelt, daß wir Blite-Ball nennen, also Black- & White-Ball, ein größerer Schaumstoffball, der genauso aussieht wie der Tipp Kick Ball, nur die Größe von einem Fußball hat. Gerade in heterogenen Gruppen kann man auch mit Blick auf den Master of Education für die Schule eben nicht einfach nur Fußball spielen lassen, sondern muß das Fußballspiel so verändern, daß möglichst viele Schüler teilhaben können. Da wird auch ggf. nicht mehr auf ein Tor, sondern über eine Grundlinie gespielt und es darf nur derjenige weiterspielen, dessen Farbe nach oben zeigt. Dadurch haben wir Tipp Kick sozusagen re-adaptiert und wieder zurück in die Halle gebracht. Es kann wieder in Bewegung übersetzt und selber nachgespielt werden und das ist durchaus sinnvoll auch im Schulkontext.
 

WM 2014 - © Tipp Kick

Prof. Dr. Eckart Balz leitet den Arbeitsbereich Sportpädagogik im Institut für Sportwissenschaft in der Fakultät Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität. 2017 übernahm er bei der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft das Amt des Vizepräsidenten für den Bereich Bildung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Planungsdidaktik, Schulsportforschung und Sportentwicklung.
 
Wir danken der Firma Tipp Kick für die Bilder aus dem Firmenarchiv.
Weitere Informationen: www.tipp-kick.de