Ein knapp zweistündiges, absolut faszinierendes Kinoerlebnis

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ von Tizza Covi, Rainer Frimmel

von Renate Wagner

Aufzeichnungen aus der Unterwelt
Österreich 2021

Drehbuch und Regie: Tizza Covi, Rainer Frimmel
Dokumentarfilm mit Kurt Girk und Alois Schmutzer u.a.
 
Sie waren zwei sehr alte Männer, hoch in den Achtzigern, als das Filmemacher-Paar Tizza Covi und Rainer Frimmel sie aufstöberte. Mittlerweile sind beide verstorben, der Wienerlieder-Sänger Kurt Girk und jener Alois Schmutzer, den man in den Sechziger Jahren einen König der Wiener Unterwelt nannte. Ein schöneres Denkmal als diesen Film hätte man ihnen nicht setzen können.
 
Dabei geschieht nicht viel mehr, als daß Rainer Frimmel ihnen klug und sensibel Fragen stellte. An irgendwelchen Wirtshaustischen standen sie ihm in aller Gelassenheit Rede und Antwort, schwarzweiß abgefilmt. Auch die Schwester von „Loisl“ Schmutzer kommt zu Wort und noch ein paar ebenso uralte Zeitgenossen, die alle in der Nazizeit Kinder waren und dann im Nachkriegs-Wien ihre „Karrieren“ machten.
Daß sie Gauner waren, bestreitet keiner von ihnen, das illegale „Stoß“-Spiel, womit viel Geld zu machen war, hatten sie fest in der Hand, und wenn sich jemand dagegen stellte, dann kam es auch zu blutigen Schießereien, und die Toten lagen herum. „Was heute die jungen Ausländer tun – damals haben sich die Wiener das selbst gemacht“, stellen sie nüchtern fest. „Es war damals viel Gewalt in Wien.“ Und daß der Loisl nie eine Schußwaffe hatte (er hat sie auch nicht gebraucht), bedeutete nicht, daß in der Halbwelt nicht jeder seinen Revolver gehabt hätte.
Und doch, es wird immer wieder betont, es waren andere Zeiten, es gab etwas wie eine „Gaunerehre“ und Anstand auch im Milieu, so daß der Loisl einen schwer angeschossenen Gegner packte, im Meidlinger Krankenhaus ablud und ihm damit das Leben rettete. Die Körperkräfte dieses „Loisl“, der als absolut ruhiger alter Mann vor der Kamera saß und erzählte, waren legendär und von der Polizei schwer gefürchtet. „A Kraft hat der g’habt, wie a Viech.“ Darum hat man ihn – und Kollege Karl Girk – bei erster guter Gelegenheit für zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt, obwohl alle wußten, daß die beiden zumindest in diesem Fall (der Überfall auf einen Postboten) unschuldig waren.
 
Loisl und Kurt erzählen das alles mit nüchterner Selbstverständlichkeit. Keine Emotionen, keine Duselei. Sie setzen sich nicht in Szene. Das war ihr Leben, und sie schauen einfach darauf zurück. Ein Verhalten, wie man es in unserer hysterisch gewordenen Ego-Welt nicht mehr findet – und das Bewunderung verlangt. Menschen aus einer anderen Zeit, die sie selbst geblieben sind.
Dokumentationsmaterial wird in den Film gefügt – die Schwester blättert im Familienalbum, alte Wochenschauen und Zeitungsschlagzeilen veranschaulichen, daß das keine Märchen eines Drehbuchautors sind, sondern einst harte Realität war. Und wenn ein Gefängniswärter von einst erzählt, wie es dort zuging, wird einem fast übel – ebenso bei den Geschichten über eine brutal prügelnde Polizei.
 
Was nachher geschah, als der Loisl und der Kurt aus dem Gefängnis kamen, wird nicht berührt. Das heißt, der Kurt war Heurigensänger bis zuletzt, dieser Beruf hat kein Ablaufdatum, wie der Loisl die letzten Jahrzehnte verbracht hat, erfährt man nicht. Aber man begegnet einem Mann, dem man nie zutrauen würde, daß er seine Körperkräfte willkürlich oder bösartig eingesetzt hat. Man kann nicht anders, man mag den Loisl und den Kurt ganz einfach. Es  ist nicht immer so klar, wer „gut“, wer „böse“ ist… nicht im wirklichen Leben.
 
Und das bekommt man geboten – und eine andere Welt dazu. Gibt es sie noch, die Gaunersprache mit ihren Ausdrücken, von denen man einige tatsächlich nicht kennt und die beiden so selbstverständlich von den Lippen fließt? Glaubt man den beiden, wenn sie in aller Selbstverständlichkeit sagen, damals sei alles besser gewesen? Auch die Menschen? Selbst wenn der Loisl gelegentlich losprügeln mußte? Andere Zeiten und auch andere Menschen. Und ein knapp zweistündiges, absolut faszinierendes Kinoerlebnis.
 
 
Renate Wagner