Unwiderruflich irreversibel
Ich war gerade auf einer dieser Wohltätigkeitsveranstaltungen aufgetreten, was stets harte Arbeit bedeutet, stand in einem dieser Mehrzweckfoyers an einem dieser Bistrotische und überlegte, mit welcher Begründung ich möglichst bald subtrahieren könnte.
Wie immer bedankte man sich artig für meine wunderbare Darbietung. Einige Vertreter humanitär verschwägerter Organisationen hatten sich um den Tisch geschart und begannen im gegenseitigen Wettbewerb, die Termine ihrer nächsten Benefiz-Veranstaltungen in den Raum zu rufen, Wobei klar wurde, daß diese allesamt nur durch einen Gratisauftritt meinerseits eine Chance auf Erfolg haben würden.
Wie zum Beweis seines tadellosen Engagements hielt mir ein besonders enthusiasmierter Aktivist ein undefinierbares Etwas vor die Nase und meinte, jeder sollte einen haben und ob ich meinen Organspenderausweis auch immer bei mit hätte? Ich erkannte die Chance, schlug mir vor die Stirn, blickte wirr um mich, rief: „Jetzt hätte ich doch beinahe meinen obligatorischen Blutspendetermin vergessen“, und verließ in Sekundenschnelle das Gebäude. Auf der Heimfahrt mußte ich an einer Bahnschranke halten. Während der Nahschnellverkehrstriebwagen auf sich warten ließ, gedachte ich dankbar des Organspenders, der mir diesen unwiderruflich moralisch einwandfreien Abgang ermöglicht hatte. Und während ich vor mich hin gedachte, schoß mir eine Frage durch den Kopf: Was macht eigentlich jemand, wenn er nicht will, daß ihm alles rausgenommen wird?
Die Frage ist natürlich nur hypothetisch-theoretisch gemeint, also sozusagen rein wissenschaftlich, mit anderen Worten, Sie können so tun, als hätte keiner gefragt. Selbstverständlich gehe ich davon aus, daß jeder anständige Bundesrepublikaner seine Innereien ohne jede Einschränkung zu Verfügung stellt. „Mein Bauch gehört mir“ findet seine korrekte logische Fortsetzung in „Nieren für alle!“
Aber ich würde halt nur mal gerne wissen, rein interessehalber, Sie verstehen, was man tun muß, wenn man so als Sozialschädling nicht ohne, sondern mit Bauchspeicheldrüse beerdigt werden möchte. Sie werden sagen, wenn man hirntot ist, kann einem das egal sein. Das ist irreversibel, wie es so schön heißt im Gesetz, man ist so gut wie tot, und so gut ist man noch nie gewesen. „Nie war er so wertvoll wie heute“, werden die Nachbarn sagen.
Aber vorher, wie ist es da? Wenn man so daliegt und merkt, wie es einem langsam immer schlechter geht, Tag für Tag; Woche für Woche liegt man der Versicherung auf der Tasche. Was denkt man, wenn die Schwester zur Tür reinkommt: Hat man Angst, daß schon wieder der Hirnstrom gemessen wird? Oder freut man sich: Wie schön, ich werde noch gebraucht. Und was werden die Angehörigen sagen? Mit Frau und Freund und Bruder hat man zwar ausführlich besprochen, daß man gerne komplett die Stiefmütterchen aus dem Grab stoßen möchte; aber das hilft nix, wenn die Frau in Urlaub, der Bruder auf Dienstreise und der Freund im Ausland ist.
Die Zeit drängt, und die wie immer hingebungsvoll weit über ihre Arbeitszeit hinaus telefonierende Stationsschwester, die schon durch ihr großzügiges Gehalt übermotiviert ist, telefoniert bis zum Umfallen und erreicht niemanden - außer Tante Hilde.
Tante Hilde! Die einen seit der Scheidung, das war ja auch entsetzlich mit diesem Prozeß um die Doppelhaushälfte, sowieso am liebsten auf dem Friedhof sehen würde, schon wegen des Klaviers, das Werner zum Schluß dann doch nicht bekommen hat. Und dann liegt man da und denkt, sprechen kann man ja nicht mehr: Was wird wohl Tante Hilde dazu sagen? Vielleicht: „Herr Doktor, nehmen Sie man ruhig, was Sie brauchen, dann ist der Junge wenigstens einmal in seinem Leben zu was gut gewesen!“
Ein Glück, daß der Zeitpunkt eines solchen Eingriffes wissenschaftlich abgesichert ist. Dem Himmel sei Dank! Denn wissenschaftlich, das bedeutet, es traut sich keiner zu widersprechen: Das Erlöschen der Hirnströme ist das Ende des Sterbens, unwiderruflich irreversibel; also nicht das Ende des Lebens, sondern das Ende des Sterbens, mithin lebt man zwar noch ein bißchen, ist aber praktisch so gut wie gestorben.
Das Unwiderrufliche in den Händen ausschließlich von Personen des engsten Vertrauens: Mit den einen ist man verwandt, und die anderen verarbeiten uns weiter, ein kleines Dankeschön an dieser Stelle auch mal an unsere tüchtigen Ingenieure.
Und erst wenn wir alle ein neues Herz bekommen haben, ganz China inklusive Taiwan und Baden-Württemberg komplett, plus zweimal neue Augen und dreimal frische Gehörknöchelchen, wird uns auffallen: Auch unsere Geburt war unwiderruflich irreversibel. Aber wir arbeiten daran. Beim nächsten Benefiz.
© Wendelin Haverkamp
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.
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