Wem oder was die Stunde schlägt

Herkunft und Bedeutung eines häufig gebrauchten Wortes

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Wem oder was die Stunde schlägt
 
Herkunft und Bedeutung eines häufig gebrauchten Wortes
 
 
Von Heinz Rölleke
 
Offenbar einer eigenen Lieblingsvorstellung folgend, übersetzen germanistische Studienanfänger den mittelhochdeutschen Vers Walthers von der Vogelweide, in dem ein Mädchen über die von ihr empfangenen Küsse während eines amourösen Stelldicheins berichtet - „kust er mich? wol tûsendstunt“ -, ins Neuhochdeutsche mit den Worten „Hat er mich geküßt? Ja, wohl tausend Stunden lang.“ Dabei denkt man nun eher an eine Eintragung in Guinness „Buch der Rekorde“ oder stellt sich merkwürdig märchenhafte Liebespraktiken im zwölften Jahrhundert vor. Tatsache aber ist, daß man die ältere (Neben)Bedeutung des Wortes „stunt“ nicht mehr kennt. Das Wort „stunta“ ist erstmals in althochdeutschen Texten des 8. Jahrhunderts nachweisbar. Es hat sich aus (erschlossenem) germanischem „*stunto“ entwickelt, das seinerseits mit urgermansich „*stahen“ (stehen) verwandt ist. Eine „stunta“ oder mittelhochdeutsch „stunde“ meint also einen stehenden Punkt im Zeitverlauf, einen Zeitpunkt und damit zugleich einen Augenblick, aber keinesfalls einen Zeitabschnitt von 60 Minuten. Auf der Hochzeit zu Kanaan (Joh. 2.4) spricht Christus genau in diesem Sinn: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Das heißt nämlich: 'Wartet bis der Augenblick kommt, in dem ich meine erste Wundertat vollbringe' und nicht etwa, bis die Zeit eines Stundenablaufs kommt, die gebraucht wird, um Wasser in Wein zu verwandeln. Am Ende seines öffentlichen Wirkens erkennt Jesus, daß „seine Stunde“ gekommen ist, zu der die Passion beginnen wird (Joh. 13.1).
 
Erst seit dem 16. Jahrhundert tritt die neue Verwendung des Wortes (nämlich als Bezeichnung für 60 Minuten) allmählich neben die ältere Bedeutung und hat diese inzwischen fast ganz verdrängt. Immerhin begegnet (meist in gehobener Sprache) noch „von Stund an“ im Sinn von 'seit diesem Augenblick', 'seit diesem Mal'. Der Liebhaber im Walther'schen Gedicht hat sein Mädchen während des Stelldicheins unter der Linde also nicht tausend Stunden lang, sondern gefühlte tausend Mal geküßt (damit bleibt die eindrucksvolle Zahl Tausend natürlich so unrealistisch wie in der neueren Bedeutung). Stunde meint also bis zum Beginn der Neuzeit keinen genau bestimmten Zeitraum, sondern einen einzigen Moment.
 
Wer die Sprachentwicklung beobachtet weiß, daß die älteren Bedeutungsschichten eines Wortes nur selten ganz vergessen werden; so auch hier. Zwar hat man nun den genauen Verlauf einer Stunde, um den man sich früher nicht im Uhrzeigersinn gekümmert hat, festgelegt: Eine Stunde ist der 24. Teil eines Tages und dauert genau 60 Minuten. Was aber ist die „glückliche“ oder die „unglückliche Stunde“, in der jemand geboren wurde? Wie lange währt die „schwere Stunde“, der eine Schwangere entgegensieht? Wie steht es mit der Deutschstunde im Schulunterricht? Sie umfaßt seit je und noch immer die Dauer von 45 Minuten. Das heißt aber: Alle hier berufenen Stunden sind nicht gleich lang. Wenn jemand seine Chance im geeigneten Augenblick ergreift, so erstreckt sich dieser eher nicht über sechzig Minuten, obwohl man sagt: Das war seine Stunde, als er den rechten Moment des Handelns nutzte. Die Sterbe- oder Todesstunde, die letzte Stunde eines Lebens, von der in unzähligen Geistlichen Liedern und Gebeten sowie in der Literatur häufig die Rede ist, wird schon gar nicht mit 60 Minuten in Verbindung gebracht – vielmehr kann sich das Sterben natürlich über einen beliebigen Zeitraum erstrecken. So darf man auch ohne weiteres, um der Redensart etwas von ihrem Schrecken zu nehmen, euphemistisch vom „Stündlein“ sprechen („Wenn mein Stündlein vorhanden ist / und ich soll fahr'n mein' Straße“ beginnt ein 1562 durch Niclas Hermann verfaßter Text, zu dem J.S. Bach einige Choralvertonungen schuf), was in der neueren Wortbedeutung allerdings als unlogisch erscheint. Umfaßt ein „Stündlein“ oder ein „Stündchen“ weniger Zeit als eine Stunde - und wenn, dann wie viel? Die in dieser Redewendung begegnende Diminutivform hat mit absoluten, festen Zeitvorstellungen nur vage zu tun. Die im Rokoko häufig gebrauchte Wendung „sie kosten ein seliges Stündchen“ hebt nicht auf 60 oder 45 Minuten ab, sondern wie bei Walther von der Vogelweide auf eine gefühlte Zeitspanne, deren Glückseligkeit allemal wichtiger scheint als die Dauer. Auch ein „Stündchen“, in dem man gemütlich geschlafen hat, bezeichnet die Art und nicht die Länge der Erholungspause. Etwas anders steht es um die tautologische Formulierung „knappes Stündchen“, mit der man eine reale Zeitspanne bezeichnet, die etwas weniger als 60 Minuten währt.
 
Subjektiv gewertet ist natürlich keine Stunde wie die andere. So sagt es auch ein altes Sprichwort: „Wer wartet auf die Zeit, dem wird eine Stunde wie eine Ewigkeit.“
 
Ein Glockenschlag kündet traditionsgemäß den Beginn einer vollen Stunde an; in den frühen Redensarten zu diesem Motiv ist aber damit weder ein präziser pünktlicher Anfang noch eine festgelegte genaue Dauer gemeint. „Wem die Stunde (etwa seines Todes) schlägt“, dessen Leben geht unausweichlich zu Ende – wie lange dieser Vorgang dauert, steht nicht in Rede. Auch der Sinn der „hora mortis nostrae“, die im „Ave Maria“, einem der populärsten Gebete, immer erneut wiederholt wird ('in der Stunde unseres Todes'), besteht nicht in der Berufung eines festumrissenen Zeitablaufs. Es geht um die Fakta des Sterbens und des Todes, nicht um deren zeitliche Dauer oder ihren Zeitpunkt, denn „mors certa, hora incerta“, wußten schon die Alten Römer: Der Tod ist sicher, die Stunde seines Kommens nicht. So spricht auch die Bibel (Mt. 25.13): „Ihr kennt weder den Tag noch die Stunde“ des Gerichts. Aber auch im Zustand des Glückes verliert die Stunde ihre Funktion, dessen Beginn und Dauer anzuzeigen, denn „dem Glücklichen schlägt keine Stunde.“
 
Eine interessante Beobachtung zum Thema kann man in den Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ machen, wo die Bezeichnung „Stunde“ häufig in der neueren Bedeutung für ein ganz präzises Zeitmaß steht, so wenn eine Erlösungsbedingung lautet: „Du mußt sieben Jahre stumm sein […] und fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst“ (KHM 9 „Die zwölf Brüder“). In genau einer Stunde soll Aschenputtel die Linsen aus der Asche lesen (KHM 21). Daneben tradieren aber auch einige Texte etwas von der älteren Bedeutung. Das berühmte Märchen „Jorinde und Joringel“ wurde erstmals 1775 von Heinrich Jung-Stilling veröffentlicht. Es enthält einen rätselhaften, offenbar sehr alten Binde- und Lösezauber, den eine Hexe spricht: „Bind los, Zachiel, zu guter Stund“; der Zeitpunkt für dessen Wirksamkeit ist die „gute (richtige) Stunde.“ Im „Rotkäppchen“-Märchen (KHM 26) wohnt die Großmutter „eine halbe Stunde vor dem Dorf“. Im Brüdermärchen (KHM 60) liegen die Stadttore „eine Stunde auseinander“. „Das Hirtenbüblein“ (KHM 152) spricht vom „Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe.“ Der Begriff „Stunde“ definiert hier Entfernungen, Höhen-, Breiten- und Tiefenmaße. Noch heute kann man die Wendung „eine Stunde Weges“ brauchen und verstehen.
 
„Zum Raum wird hier die Zeit“, bescheidet Gurnemanz in Wagners letzter Oper „Parsifal“ (I.2) den Tumben auf ihrem gemeinsamen Weg zum Gral – ein tiefsinniges Bild, das bemerkenswerterweise durch einige Wendungen in Volksmärchen gestützt wird.
 
Der weise Prediger Salomonis (3.1) wußte es schon vor 2300 Jahren: „Alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021