Ahasver der Leidenschaft

Henri-Pierre Roché – „Don Juan und …“

von Frank Becker

Titelfoto © Jean Roché
Ahasver der Leidenschaft
 
Die rastlosen Wanderungen des Don Juan
 
 
Don Juan sieht wieder ihre Knie vor sich,
sieht wieder ihre Hüften, sieht wieder ihre Brüste …
„Sie geschehe!“ sagt er, ganz laut.
 
Sagen wir es gleich: Dieses Buch ist ein Solitär! Henri-Pierre Rochés 28 Miniaturen aus dem Leben (s)eines Don Juan sind die delikateste Prosa, die mir seit langem zu Augen gekommen und tief in meine Seele gesunken ist.
 
Henri-Pierre Roché (1879-1959), Franzose und Kosmopolit, Schriftsteller, Kunstsammler und -agent, Freund der größten Künstler und Literaten Mitteleuropas seiner Zeit, vor allem aber schier maßloser Erotomane, hat mit diesem schmalen Band ein vor Leben dampfendes Meisterwerk geschaffen. Seine kongeniale Übersetzerin Dörte Lyssewski macht deutlich, daß Roché darin fraglos sein eigenes Dasein, sein Fühlen, seine erotischen Siege und sein zielloses Suchen manifest gemacht hat. Er ist ein Ahasver der Leidenschaft gewesen. „Don Juan und …“ ist kein Roman wie andere, wenn auch erlesene Prosa in zeitlich aufeinanderfolgenden Stücken, die letztlich in die Klammer eines Lebenswegs gefaßt sind. Es ist ein Weg, dessen Schritte dem Don Juan al. Henri-Pierre Roché von frühester Jugend an durch das amouröse Verhältnis zu seiner Mutter für fast ein halbes Jahrhundert bestimmt sind; auch spätere Amouren, vor allem die Ménage à trois mit dem Ehepaar Franz und Helen Hessel sprengen jegliche bürgerlichen Vorstellungen von Leidenschaft, Liebe und Erotik. Seine kurze, aber aufschlußreiche Biographie im Nachwort macht das deutlich.
 
Was Roché durch die 28 Prosastücke stets dicht an der eigenen Welt in beneidenswerter Sprache und grandiosen Impressionen reflektiert, ist die von Abenteuerlust, süßen Erfolgen und bitteren Erkenntnissen begleitete Biographie eines jungen Mannes, der von sehr frühen erotischen Erlebnissen geprägt sowohl seine jugendliche Unbesiegbarkeit erkennt, wie auch die eigene Evasion, den Rückzug vor dem Wirklichen. Das flüchtige, wenn auch tiefe Erlebnis, den sich unverbindlich wiederholenden trügerisch hellen Strahl des Moments mag er nicht gegen eine solide Entscheidung eintauschen: „Und diese Frauen wiegen schwer wie ein Schuldschein, / und Wiederholung / mag ich nicht. / Heute Nacht wird die Straße mein Bett sein / Die Lenden meines Pferdes werden sich unter mir bewegen / Morgen wird uns eine unbekannte Stadt empfangen.“
Wir durchstreifen mit Don Juan, der geistige Nähe zum Junker Voland von Rochés Zeitgenossen Louis Bertrand (1866-1941) ahnen läßt, den ganzen Kosmos seiner Lüste, Begehrlichkeiten, körperlichen Freuden, Emotionen und Reflexionen - wiedererkennbar, nahezu haptisch greifbar für jeden Fühlenden. Doch spürt er zugleich auch schmerzlich den selbst gewählten Verlust, vor allem gegen Ende seiner rastlosen Reise, wenn er in köstlichen Begegnungen auf Legenden der Liebe trifft, ob das François Bouchers duftende Venus ist, William Shakespeares desolate Ophelia oder - ein Glanzlicht der heiter-tragischen Poesie Rochés - Hans Christian Andersens kleine Meerjungfrau als endgültiges Manifest. Dazwischen: Wanderungen, Träumereien, Konflikte und blutige Klingen, zarte Begegnungen, saftige Liebesabenteuer und Eifersüchteleien - `wie in Rochés Leben´ möchte man sagen. Eine nicht zu übersehende Analogie.
 
Und mit einer Empfindung des Irreparablen, gemischt
mit dem Gefühl eine „Uff!“ warf er, gerade als die Sonne
den Horizont erreichte, die kleine Meerjungfrau ins Meer.
 
Wiederentdeckt, zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt und nun im Klever Verlag herausgegeben hat die zwischen 1905 und 1921 entstandene Sammlung kurzer Prosatexte, die nach 1921 in Frankreich immerhin sechs Auflagen erlebte, die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin Dörte Lyssewski, der für das Projekt und die meisterliche Übersetzung abermals eine Auszeichnung gebührt. Die Musenblätter tun das in ihrem Rahmen mit ihrem Prädikat, dem Musenkuß – mit Sternchen*. Unser Buch des Jahres (falls uns nicht ein noch besseres unterkommt).
 
Henri-Pierre Roché – „Don Juan und …“
Aus dem Französischen, sowie mit einem ausführlichen Nachwort und Anmerkungen von Dörte Lyssewski
© 2021 Klever Verlag, 158 Seiten, gebunden, 14×22 cm - ISBN 978-3-903110-76-2
20,- € 
 
Weitere Informationen: www.klever-verlag.com