Ein Phänomen seiner Zeit

Timo Skrandies / Bettina Paust (Hg.) Joseph Beuys Handbuch. Leben - Werk - Wirkung

von Johannes Vesper

Ein Phänomen seiner Zeit

Josef Beuys Handbuch
 
Unter den hohen Buchen des Skulpturenparks Waldfrieden in Wuppertal fand das Pressegespräch statt, mit dem Bettina Paust und Timo Skrandies bei sonnigem Wetter ihr neues Joseph Beuys-Handbuch vorstellten, über die Entstehung des Werkes sprachen, darüber, daß der Verlag mit diesem Werk seine Personen-Handbuchreihe Literatur in den Bereich der bildenden Kunst erweitert und natürlich über Joseph Beuys, diesen wichtigen und berühmten Künstler (1921-1986), Lehrer, Gesellschaftsreformer und Politiker aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Reaktionen auf Person und Werk reichen noch heute von „emphatischer Zustimmung“ bis hin zu hin „zu rigoroser Ablehnung (Spinnertum)“, heißt es in der Einleitung). In einer Ringvorlesung über „Kunst und Anthropozän“ (2017) sei das Projekt entstanden, trotz nahezu unübersehbarer Literatur über Joseph Beuys in einem Handbuch die verschiedensten Facetten seines Lebens und Werkes darzustellen. Dazu wurden 53 Autoren und Autorinnen eingeladen, die sich in 83 Beiträgen, gegliedert in sechs Kapitel (Leben und Werk, Werkformen und- zusammenhänge, Werketablierung, Kontexte, Begriffe, Rezeption), dieser Aufgabenstellung angenommen haben. Anhand dieses Nachschlagewerks sollen sich Interessierte ein Bild von dem machen können, der „das Verständnis von Kunst auf die …. Verantwortung des Menschen für eine humane und nachhaltige Gesellschaft erweitert hat“.
 
„Ich bin gar kein Künstler“ (Beuys 1985)
 
Beuys hinterließ ein umfangreiches zeichnerisches Werk, vermied in aller Regel spezielles Zeichenpapier, betrachtete seine Zeichnungen als „Ideenspeicher“ und bestritt, überhaupt Künstler zu sein. Diese instabilen „ultravisiblen (?) Notate“ mit zartesten Linien wurden auf ausgerissene Kalenderblätter, Karton oder anderen minderwertigen Papieren gezeichnet und symbolisieren in ihrer Vergänglichkeit „Bewegung“ und „Transformation“, zwei zentrale Begriffe seines künstlerischen Denkens. „Daher ist die Natur meiner Skulpturen nicht festgelegt und abgeschlossen. In den meisten von Ihnen setzen sich die Prozesse fort: chemische Reaktionen, Gärungen, Farbveränderungen, Verfall, Austrocknung. Alles befindet sich in einem Zustand der Veränderung“. Er scheint sich der Wirkung seiner Werke aber unsicher gewesen zu sein, wenn er zu unbestimmten und vieldeutigen Werken einerseits sehr genaue Titel lieferte und andererseits vom Konsumenten derselben eine Sinnstiftung oder gar Sinngebung erwartete. Wenn Beuys den „Anteil des Künstlers am Prozess der Formwerdung als ein intuitives Erfassen des Geistigen“ versteht und „der Gegenstand entscheidet, wann er fertig ist“, dann ist der Konsument bei der Betrachtung von Fett auf Stühlen und in der Badewanne, von Luftpumpen und toten Hasen völlig unabhängig von Geschmacksfragen oft mit der Sinngebung überfordert. Hierzu können die Autoren des Handbuchs auch nichts beitragen, wurden sie doch eigens von den Herausgebern ausgewählt, weil sie sich „frei von Exegetentum“ mit Beuys auseinandersetzten und sich ihm mehr interdisziplinär nähern, also auch „aktuelle kunst-, bild-, kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze“ berücksichtigen. Die Kunstgeschichte und ihre Methoden alleine reichen für die Beschäftigung mit Beuys offensichtlich nicht aus. Beuys selbst hatte mit Gold und Honig im Haar zwar nicht dem Publikum aber immerhin einem toten Hasen seine Bilder erklärt, wobei über den Erfolg dieser Aktion nichts bekannt geworden ist. Jedenfalls scheint seine persönliche Wirkung bei den Aktionen charismatisch und gewaltig gewesen zu sein, der sich das Publikum nicht entziehen konnte (siehe auch Ute Klophaus im Katalog ihrer aktuellen Ausstellung in Wuppertal).
 
 „Jeder Mensch ist also ein Künstler“
 
Damit fasst er seinen erweiterten Kunstbegriff kurz zusammen, der „die einzige Möglichkeit sei, die herrschenden Verhältnisse zu überwinden“. Führt Beuys die im Mittelalter religiös gebundene, später zur reinen Ästhetik befreite Kunst zurück zu einer politischen Bindung? Seine politischen Aktionen, wie die Gründung von Parteien (Partei für Tiere, Deutsche Studentenpartei, Organisation der Nichtwähler u.a.), sein Eintreten für direkte Demokratie durch Volksabstimmung oder seiner Free International University for Interdisciplinary Research legen das nahe. Jedenfalls erweitert er damit alle Grenzen herkömmlicher Kunst. Im Handbuch wird zwar darauf hingewiesen, daß Joseph Beuys mit Objekten und Aktionen seinen Begrifflichkeiten künstlerisch nachgespürt habe, was aber wegen des Fehlens jeglicher Abbildungen so ohne Weiteres vom Leser nicht nachvollzogen werden kann. Und wieso ist nur der Mensch ein Künstler? Wieso nicht die Schnecke mit ihrer Schleimspur? Schon im 18. Jahrhundert hatte Jean Siméon Chardin (1699-1779) einen Affen als Maler gemalt. „Gemälde“ vom Schimpansen Congo wurden erst nach dem Tode von Joseph Beuys für viel Geld als Kunstwerke verkauft. Auch die malenden Affen aus dem Krefelder Zoo konnte Beuys nicht kennen, für deren Kunstwerke immerhin gilt, was Reiner Maria Rilke zum Kunstwerk geschrieben hat, daß es „losgelöst von seinem Urheber , allein bestehen kann“ und daß die Selbständigkeit des Kunstwerkes in seiner Schönheit bestehe. Aber der Aspekt der „Schönheit in der Kunst“ ist bei Beuys nur bedingt verloren gegangen. Seine Objekte und Installationen, so sparsam, spröde sie gelegentlich wirken, weisen doch beeindruckende, formale und ästhetische Qualitäten auf. Sah Rilke im Kunstwerk die Reaktion des Künstlers auf ein Heute, sucht Beuys mit seinen Aktionen und Objekten das Morgen. Er erläutert mit ihnen seine Lebensauffassung, erweitert und dehnt seine Kunst zur „sozialen Plastik“, ja bis hin zum „Gesamtkunstwerk“, wobei das Beuyssche mit dem Richard Wagners eigentlich nur den Begriff gemeinsam hat. Die Beuysschen Objekte und Aktionen stellen allein aus sich heraus Filz, Fett, Luftpumpen, Szenen oder anderes dar. Nur im Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit und ihren Ausstellungsorten wurden sie als künstlerisch wahrgenommen. Nicht von jeden. Der Philosoph Odo Marquard sprach polemisch wie souverän von „gesamtkunstwerkelnder Beuysscher Identität zwischen Avantgarde und Heilsarmee“. Also weniger Künstler, eher doch Schamane, Phänomen, Mystiker? Auch die Herausgeber fragen, was aus dem Hybrid-Gesamtkunstwerk Joseph Beuys, bestehend aus seiner Persönlichkeit, seinem Leben, den Objekten, Aktionen usw. nach seinem Tode wurde und zukünftig noch werden würde. Posthume erneute Aufführungen von Aktionen wurden gelegentlich durchgeführt und für möglich gehalten, wobei die Beuysschen „Partituren“ eher Notate von den Aktionen darstellten und eine Wiederaufführung kaum ermöglichen.
 
Kunst = Kapital
 
Kunst als Geldanlage, wozu sie inzwischen mutiert ist, hat selbst Beuys nicht vorhergesehen und bei seinem erweiterten Kunstbegriff nicht im Blick gehabt. Aber seine Werke erzielten auf dem Kunstmarkt schon zu seinen Lebzeiten hohe Preise. Er selbst glaubte 1981, daß der Kapitalismus als Gesellschaftsform nur noch 2272 Tage überleben würde. Wohin sich die Gesellschaft danach unter dem Einfluß Beuysscher Kunst konkret entwickeln sollte, welche gesellschaftliche Utopie er konkret anstrebte, bleibt auch nach der Lektüre dieses Handbuches unklar. Bücher hat er nicht geschrieben. Zur Orientierung in seinen Vorstellungen und Themen, wie er sie in freier Rede (Interviews, Gesprächen, Reden) vorgetragen hat, wird man den „Beuys Kompass“ (Monika Angerbauer-Rau 2008) zur Hand nehmen müssen. Mit seiner Aktion „7000 Eichen- Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ (documenta, 7, 1982) hatte er sich als Spitzenkandidat der damals neu gegründeten „Grünen“ empfohlen und festgestellt: „das einzig vernünftige, was in diesem Jahrhundert passierte, war bäume pflanzen und löcher in steine bohren, damit wolle wir auch nicht mehr aufhören“ (Joseph Beuys 1983). An seinen Hirschdenkmälern (Akkumulationsmaschinen) treffen sich „Menschen und alle Geister“ um den Begriff des Kapitals und damit die Weltlage in die richtige Form zu bringen. Solche Überlegungen werden wie die verwirrenden Begrifflichkeiten (erweiterter Kunstbegriff, Antikunst, Energie, Transformation, Partitur, Gesamtkunstwerk, Kapital, Kreativität, Prozesse ,Soziale Plastik, Denken als plastischer Praxis und andere mehr) in den Texten des Handbuches ausgiebig erläutert und zwar meist in einem schwer lesbarem Stil, der Wissenschaftlichkeit suggeriert. Einzelne Druckfehler (z.B. S. 3, Jahreszahlen im 2.Absatz) und das unzureichende Register, in dem wichtige Lebensstationen und Werke nicht gefunden werden (beispielsweise „7000 Eichen 1982-87“ am Anfang des Registers unter „Symbol“ (?) oder das 24-Stunden-Happeningin der Galerie Parnass 1965) wurden in der Buchausgabe vielleicht schon korrigiert. Dem Rezensenten lag nur ein vom Verlag zur Verfügung gestelltes PDF vor.
 
Beuys = Schamane
 
Von 1955-1957 (Kapitel 3: Beuys Krise von Hartmut Kraft)) war Joseph Beuys stimmungsmäßig labil und wurde psychiatrisch stationär behandelt. Vor allem in diesen Jahren entstand sein zeichnerisches Werk und damit ein „kryptisch-mystisches Bildinventar für spätere Aktionen und Objekte“. Ärztliche Befundberichte werden nicht vorgelegt. Diese Lebensphase erscheint insgesamt schlecht dokumentiert. Beuys selbst hat sich dazu später in Interviews geäußert und erklärt „Ich habe ja die Figur des Schamanen wirklich angenommen“. Der Beuyssche Hinweis auf ein Wesen (Engel(?)), welches ihm im Alter von 4 Jahren „plötzlich gegenüberstand und mir mitgeteilt hat, was ich machen solle“, wird ohne sicheren Bezug auf die Lebenskrise des Künstlers berichtet, aber als frühe Berufung auf sein Schamanentum verstanden. Bezüglich seiner Lebenskrise bleibt ungeklärt, welche Bedeutung der Beziehung zu einer jungen Postangestellten in diesem Zusammenhang zukommt. Warum hat er sich wochenlang n der Wohnung eines Freundes eingeschlossen und von Freunden dort in einem völlig verdunkelten Zimmer angetroffen ? Was bedeutet es für die Beuyssche Seele, wenn er ankündigt hat, er wolle sich auflösen? Auch seine Äußerungen, er wolle in einer auf seinen Wunsch hin eigens vom Schreiner angefertigten mit Teer ausgeschmierten Kiste „mit dem Leben aufhören“ ist psychiatrisch schwer zu deuten. Kann all das als transformative Krise auf dem Weg zum Schamanen beschrieben und gedeutet werden? Leser:innen des Handbuchartikels bleiben hier ratlos. Beuys selbst machte „Kriegserlebnisse“ für den Ausbruch seiner Krise verantwortlich. Ob eine solche Psychopathologie als posttraumatische Belastungsstörung nach seinem Flugzeugabsturz auf der Krim elf Jahre zuvor tatsächlich angesehen werden kann? Können posttraumatische Tagträume im Sinne eines Oneiroid-Syndroms ursächlich für seine falschen Angaben über eine Behandlung mit Filz, Salbe und Wärme durch Tataren nach dem Flugzeugabsturz auf der Krim am 16. März 1944 verantwortlich sein, auch wenn das gar nicht stattgefunden hat? Das erscheint kaum plausibel. Im Kapitel 8 (Biographische Mythen) werden alle diese Probleme von Janneke Schöne aufgearbeitet. Hat Beuys die Tataren-Legende etwa ironisch gemeint oder sie in die Welt gesetzt, um sich selbst zu erfinden, den eigenen Mythos zu begründen und ein Schlüsselerlebnis seiner Entwicklung zu liefern? Joseph Beuys hat sein Leben und Werk parallel dargestellt, als er seinen Lebenslauf/Werklauf verfasst hat. Der Personenkult um Joseph Beuys bzw. die Resonanz bei Publikum, Presse und auch Künstlerkollegen zu seinen Lebzeiten weckte posthum Zweifel „ob sein Werk ohne ihn überhaupt bestand haben könne“. Schade, daß das Werk, in welchem sich die Transformation des Künstlers zum Schamanen spiegeln soll, nicht abgebildet wurde. Schade überhaupt, daß im Handbuch auch Äußerungen und Aphorismen des Künstlers nur gelegentlich aufgeführt wurden. Anhand derer könnte sich der Interessierte zusätzlich ein authentisches Bild der Ideen und Denkart, der Projekte von Joseph Beuys machen. Das Handbuch mit Werkregister und Personenregister bietet viel Material und wird als Nachschlagewerk genutzt werden. Im Anhang findet man alle Autor:innen nebst Wirkungsstätte aufgelistet. Das Handbuch wird zusammen mit Standardwerken über Joseph genutzt werden („Beuys-Kompass seiner Interviews und Gespräche“ 1998 (Angerbauer-Rau), „Beuysnobiscum“ (Szeeman 1993), „Joseph Beuys: Leben und Werk“ (Adriani-Konnertz-Thomas (1981), „Parallelprozesse“ (Kunstsammlung NRW 2011) um nur einige zu nennen). Natürlich wird der Besuch der aktuellen Ausstellung im Von der Heydt-Museum „Aus der Zeit gerissen“ Fotografien von Ute Klophaus empfohlen.
 
Joseph Beuys war jedenfalls ein Phänomen seiner Zeit und sein Ruhm vielleicht „niemals etwas anderes als der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um seinen Namen versammeln“ (Rilke).
 
Timo Skrandies / Bettina Paust (Hg.) Joseph Beuys Handbuch. Leben - Werk - Wirkung
Unter Mitarbeit von Jasmina Nöllen, Zsuzsanna Aszodi, Alina Samsonija, im Rahmen von „beuys 2021“ unterstützt vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW und der Kunststiftung NRW,
© 2021 J.B. Metzler Verlag, 509 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-476-05791-4 (als eBook -01),
99,99 €.
 
Weitere Informationen: www.springer.com
 
Dr. Timo Skrandies ist Professor am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dr. Bettina Paust ist Leiterin des Kulturbüros der Stadt Wuppertal und ehemalige Direktorin der Stiftung Museum Schloß Moyland.