Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben

Über philologische Genauigkeit

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker

Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben
 
Über philologische Genauigkeit
 
Von Heinz Rölleke
 
Ausgerechnet auf die Frage des angehenden Studenten nach der Theologie läßt Goethe den als Professor verkleideten Mephisto mit einer indirekten Berufung des Herrenworts aus den Evangelien des Neuen Testaments antworten:
 
            Im ganzen – haltet Euch an Worte! 
            […]
            An Worte läßt sich trefflich glauben,
            Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben (Faust I, v. 1990-2000)
 
Im Matthäus-Evangelium belehrt Christus seine Jünger über die unveränderliche Textgestalt des alttestamentarischen Mosaischen Gesetzes:
 
            Amen quippe dico vobis, donec transeat caelum et terra, iota unum          
            aut unus apex non praetaribit a lege, donec omnia fiant. 
            (Matth. 5.18)
 
            Denn ich sage Euch wahrlich, bis daß Himmel und Erde vergehen,          
            wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom   
            Gesetz, bis daß es alles geschehe. (nach Luthers Übersetzung)
 
Im Lukas-Evangelium (16.17) ist der Wortlaut der Rede etwas anders gefaßt:
 
            Es ist aber leichter, daß Himmel und Erde vergehen, denn daß ein            
            Tüttel am Gesetz falle.
 
Außer an der theologischen Implikation des Herrenworts mag sich der Philologe besonders über die Forderung einer genauen und unveränderbaren Textwiedergabe (eben nicht nur der Offenbarungsschriften) freuen, die  zu seinen vornehmsten Aufgaben gehört.
 
Christi Worte sprechen metaphorisch vom kleinsten Buchstaben im griechischen Alphabet, dem Jota (= „i“) und allgemein von den winzigen Pünktchen wie etwa Anführungszeichen in sakrosankten Texten. Das sind für die Philologen seit der Antike vor allem die Worte und Werke der Dichter. Noch Hölderlin verlangt, „daß gepfleget werde der feste Buchstab“, denn nur unter dieser Voraussetzung ist eine textgetreue Interpretation möglich („und Bestehendes gut gedeutet“).
 
Die fehlerhafte Veränderung auch nur eine einzigen Buchstabens, die auf Flüchtigkeit,  Mißverständnis oder gar auf Besserwisserei basiert, kann f+r das richtige Verständnis und die Interpretation eines ganzen Textes verheerende Folgen haben. Dafür nur ein Beispiel.
 
In einem der ersten Schreiben aus Weimar am 17. Juli 1777 an seine Brieffreundin Augusta Luise zu Stolberg blickt Goethe auf sein bisheriges (Jugend)Leben und zugleich wohl auch auf die antike Epoche der Götter zurück, wenn er gerecht Freud und Leid abwägend, aber auch deutlich resignierend sagt: „Alles gaben die Götter die Unendlichen ihren Lieblingen ganz.“ Dieser Brief wurde zu Goethes Lebzeiten nicht veröffentlicht. Erst Jahre nach dem Tod der Briefpartner druckte ein Bruder den schnell berühmt werdenden und bis heute unzählige Male auf Todesanzeigen und in Trostworten zitierten Vierzeiler ab, und zwar mit einem fehlerhaften Buchstaben, so daß der Text insgesamt immer wieder falsch  - jedenfalls nicht im Sinne Goethes -  aufgefaßt wird. Selbst Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie bietet in jüngerer Zeit immer noch denselben Fehler, obwohl er inzwischen - spät, aber immerhin - durch die Germanistik korrigiert worden war (1968 wurde Goethes Brief erstmals korrekt wiedergegeben). Im originalen Brieftext liest man völlig unbezweifelbar „Alles geben die Götter“, und das meint, die Zeiten der Götter sind so unwiederholbare Vergangenheit wie die der eigenen Jugend.
 
Was die fehlerhafte Wiedergabe eines einzigen Buchstabens selbst für ein ganzes Buch und seinen Verfasser bewirken kann, wurde im 19. Jahrhundert, als Ludwig Uhlands Ruhm auf dem Höhepunkt stand, durch eine wohl glaubhafte Anekdote verdeutlicht. Sein von ihm selbst 1815 zusammengestellter Gedichtband sollte mit den Zeilen beginnen:
 
                        Lieder sind wir, unser Vater
                        Schickt uns in die offne Welt.
 
Man erzählt sich in kritischen Kreisen, daß der Setzer bewußt oder unbewußt auf der Korrekturfahne zwei Buchstaben vertauscht habe: Statt „Lieder sind wir“ habe der Dichter peinlich berührt lesen müssen: „Leider sind wir“. Wütend soll er die Buchstaben in seiner heftigen Korrektur wieder umgestellt haben, was der Setzer indes als bloße Tilgung des „i“ mißverstand, so daß nun noch despektierlicher zu lesen war „Leder sind wir.“ Immerhin wurde auch diese Unverschämtheit noch vor der Drucklegung korrigiert, und so stellen sich Uhlands Poesien bis heute als das vor, was sie im Selbstverständnis des Dichters sein sollen: „Lieder“, Kinder ihres Vaters Ludwig Uhland.
 
In solchen und ähnlichen Fällen ist der Philologe dringend gefordert, der Lese- und Druckfehler a priori vermeidet oder die Texte so bald wie möglich (wieder) richtig stellt.
 
Es sind in der Regel eindeutige Entscheidungen, die bei der Entzifferung einzelner Buchstaben oder auch ganzer Wörter hilfreich sein können. Komplizierter wird die Sache, wenn ein Autor gezielt oder durch Unachtsamkeit bei Mutationen in seinen Texten ein doppeldeutiges Ergebnis vorlegt.
 
Vor ungleich schwierigeren, zum Teil unlösbaren Aufgaben steht der Philologe bei der Herstellung eines authentischen Textes, wenn die Meinung des Autors nicht eindeutig zu ermitteln ist. Solche Situationen sind gegeben, wenn man Teile einer Handschrift absolut nicht sicher entziffern kann oder wenn der Autor selbst sich nicht deutlich für eine Lesart entschieden hat.
 
Kleist schrieb an Goethe bei Einsendung seines „Penthesilea“-Manuskripts, das Stück enthalte „allen Glanz und allen Schmerz“ seiner Seele. Das scheinen sinnvolle und naheliegende Vokabeln zu sein für das, was der Autor tatsächlich zu empfinden glaubt. Nun ist man sich aber bis heute uneins, ob die Handschrift das Wort „Schmerz“ eindeutig erkennen läßt. Selbst die genaueste Beobachtung tendiert mit gleichem Recht zur Lesung „Schmutz“. Die Argumente für und gegen eine bestimmte Lesart können hier zu keiner klaren, philologisch eindeutigen Entscheidung führen, was seit je disparate Interpretationen des gesamten Kleist'schen Dramentextes zur Folge hat.
 
Goethe hatte seinen Dichter „Tasso“ sagen lassen: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ Jahrzehnte später zitiert er diesen eigenen Vers als Motto über seiner „Marienbader Elegie“ mit einer kleinen, aber aufschlußreichen Änderung „[...] zu sagen, was ich leide“. Es wäre kein Sakrileg, Goethe in diesem Selbstzitat eine Flüchtigkeit zu unterstellen. Es mag ja auch sein, daß er den Vers aus dem Gedächtnis mit der Abwandlung des Akkusativobjekts notierte. Wurde die Änderung allerdings bewußt vorgenommen, so ändert sie auch die Interpretation der Aussage. Geht es dem Autor bei der Berufung seines Dichtertalents nun um das „Was“ seiner Leiderfahrungen, darum nämlich welcherart Schläge ihn getroffen haben, so war ihm vorher mehr am „Wie“ gelegen: Was bewirken irgendwelche Schicksalsschläge in meinem Gemüt. Für den Philologen ergeben beide Lesarten einen Sinn, und er kann und muß jede von ihnen  natürlich unverändert in den beiden Dichtungen stehen lassen. 
 
Berühmt ist der Philologenstreit über ein Wort in Goethes „Zueignung“ zu seiner „Faust“-Dichtung. Der Autor bedauert sich selbst, daß es nach so vielen Jahren der Arbeit an seinem Meisterwerk, das ursprünglich intendierte Publikum nicht mehr gibt. Das schmerzt ihn, weil „die Guten, die, um schöne Stunden / Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden.“ Entsprechend resümiert er in Erinnerung an die dahingegangenen Zeitgenossen und Freunde:
 
                        Sie hören nicht die folgenden Gesänge,
                        Die Seelen, denen ich die ersten sang;
                        Zerstoben ist das freundliche Gedränge,
                        Verklungen, ach! der erste Widerklang,
                        Mein Lied ertönt der unbekannten Menge
                        (Faust I, v. 22-26)
 
So ist es klar und eindeutig in Goethes eigener, stets deutlicher Handschrift  zu lesen. In allen seit 1808 zu seinen Lebzeiten gedruckten „Faust“-Ausgaben aber findet sich bis auf eine Ausnahme die Formulierung „Mein Leid ertönt.“ Der handschriftliche Befund ist eindeutig: Goethe hat „Lied“ geschrieben, was der Setzer wohl durch einen Flüchtigkeitsfehler als „Leid“ wiedergab. Der Tatbestand wäre kein philologisches Problem, wenn Goethe nicht die von ihm wahrscheinlich als Druckfehler erkannte Lesart (zumal Riemer sie schon 1809 als Fehler kenntlich machte und sie dementsprechend in der ersten Ausgabe nach Goethes Tod korrigierte) kommentarlos akzeptiert hätte. Er hat die originellere Lesart „Leid“, die ja einen guten Sinn ergibt, zeitlebens anerkannt. Wäre die Sachlage anders, müßte der Philologe von einer „lectio difficilior“ ausgehen, denn der Setzer hätte dann mit „Leid“ bewußt die gegenüber „Lied“ in diesem Kontext unerwartete Wendung gewählt. Goethe dürfte die von ihm stillschweigend geduldete Änderung seines ursprünglichen Textes gefallen haben, denn - wie die Formulierung in seinem „Tasso“ zeigt - war ihm die Vorstellung, der Dichter artikuliere in seinem „Lied“ sein eigenes „Leid“ durchaus nicht fremd. Im Zusammenhang mit seiner „Zueignung“ dürfte sie ihm sogar als die originellere Wendung gefallen haben; auch könnte ihn die Häufung der „Lied“-Berufungen in den 32 Versen des Eröffnungsgedichts zum „Faust“ gestört haben: „sie hören nicht die folgenden Gesänge, […] denen ich die ersten sang“ - „der erste Widerklang“ - „mein Lied ertönt“ - „mein Lied erfreuet“ - „mein lispelnd Lied“. Wie  dem auch sei, in diesem Fall kann der Philologe bei der Textherstellung ausnahmsweise beliebig verfahren; er muß nur anmerken, welcher „Faust“-Fassung er folgt.
 
Es tut gegenwärtig anscheinend not, die Philologien, voran die Germanistik, einmal wieder an ihre grundlegenden Aufgaben zu erinnern. Schon der Dichter Hugo von Hofmannsthal mahnte:
 
            Nicht das Nichtwissen ist geistig großen Dingen gefährlich […] aber       
            das scheinbare und halbe Wissen. Es läßt sich im höchsten Geistigen       
            nicht überliefern, man überliefere es denn treu und rein.
 
Und der Philosoph Friedrich Nietzsche, der seine Laufbahn als Altphilologe begann, hat Wesen und Aufgabe aller philologischen Arbeit gültig definiert:
 
     Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem
     Verehrer vor allem Eins heischt, bei Seite gehen, sich Zeit lassen, still
     werden, langsam werden – als eine Goldschmiedekunst und
     Kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun
     hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade
     damit aber ist es heute nötiger als je […] mitten in einem Zeitalter
     der „Arbeit“, will sagen: der Hast, der unanständigen und
     schwitzenden Eilfertigkeit, die mit allem gleich „fertig werden“ will,
     auch mit jedem alten oder neuen Buche: sie selbst wird nicht so
     leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief,
     rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen
     Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021