„Zeig mir Dein Kreuz in Todes Angesicht“
Gustav Mahler Sinfonie Nr. 9
3. Abonnementskonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal in der 159. Saison
am 14.11.2021
Zögerlich beginnt sie als Andante comodo aus dem Nichts. Hohle Harfenklänge, gestopft-verfremdetes Horn, und immer wieder werden fallende Sekundenintervalle auch steigenden gegenübergestellt. Der erste Satz steht in D-Dur, obwohl der Symphonie vom Komponisten keine Tonart zugeschrieben wurde. Nach einem ersten Aufschwung auch mit Pauke und Becken baut sich aus Motivfetzen und fahlem Blech ein erstes Thema auf. Das Sextolenmotiv der Bratschen mischt bald mit. Wachsende Crescendi enden im Piano. 1910 wurde die Sinfonie als sein letztes vollendetes Werk fertig. Disharmonisch gebrochene Klänge, auseinanderstrebende Polyphonie und feurige Aufschwünge wechseln unter dem ausholenden Dirigat von Carl St. Clair mit unter die Haut gehenden orchestralen Entladungen des großen Orchesterapparats. Mitatmend gestaltete er subtil dynamische wie agogische Übergänge. Trompetenfanfaren im Hintergrund erinnern zwischendurch an die 1. Sinfonie, wirken hier aber eher ermattend im Sinne eines letztens Aufbäumens. Immer wieder klagt die fallende Synkope. Eindrucksvoll mit großem Arm wird die Baßtuba gestopft. Leise Celli werden von den heute klanglich besonders präsenten 2. Geigen begleitet. Im Programm schreibt Lutz Werner Hesse von „Weltanschauungsmusik“ und „außermusikalischen Botschaften“ dieser Musik.
Tatsächlich erscheint Mahler seit Jahren angeschlagen, psychisch trotz (oder wegen? - Anm.d.Red.) der attraktiven Alma, die genervt von seinen Stimmungsschwankungen in ihr Tagebuch schrieb „Wenn er doch nie mehr nach Hause käme….“. 1907 starb seine geliebte Tochter Maria an Scharlach, und Mahler selbst erlebte eine bedrohliche gesundheitliche Attacke. Bei einer Lohengrin-Probe stürzte er bewußtlos auf die Bühne, wahrscheinlich als Folge akuter Herzrhythmusstörungen bei bekannter koronarer Herzerkrankung. 1907 verließ er, beruflich überlastet, aufgerieben zwischen belastenden Dirigierverpflichtungen und dem Wunsch zu komponieren, nach schlechter Presse die Staatsoper und Wien. Er ging nach New York, wo er aber als Operndirigent bald Toscanini weichen mußte und froh war, als Chef der New Yorker Philharmoniker dem stressigen Opernbetrieb entrinnen zu können. Mehrfach reiste er zwischen New York und Wien hin und her, vollendete seine Neunte und hoffte bezüglich seiner Zwangsneurose und ehelicher Schwierigkeiten - Alma hatte inzwischen ein Verhältnis mit Walter Gropius - auf die Behandlung durch Sigmund Freud, der ihm aber auch nicht helfen konnte. Natürlich ist die Sinfonie Ausdruck der zerrissenen Psyche des Komponisten und Mahler scheint die Verschlechterung seines Zustands vorausgeahnt und musikalisch verarbeitet zu haben. Natürlich ist Musik die Sprache des Gefühls. Nach himmlischen Flötenklängen und schmelzender Solovioline, nach einer das Ende hinaus zögernder kleinen Coda und anrührender Klarinette endet der Satz mit langem Vorhalt so wie er angefangen hat: im Nichts. „Mahlers Seele singt ihren Abschied“ sagte der Dirigent Willem Mengelberg dazu.
Der 2. Satz beginnt „im Tempo eines gemächlichen Ländler, etwas täppisch und sehr derb“ laut Satzüberschrift, steigert sich zu einem furiosen, ernsten Konzertwalzer, immer wieder mit dem aufsteigenden Quintolen- bzw. Sechzehntelmotiv, an welches sich oft eine fallende Oktave anschließt. Mit einem langsamen Ländler und häufigen Trillern aller Bläser in wechselnden Kombinationen wird das wilde Treiben zweimal gebremst. Fagott und Piccolo, flink wie unüberhörbar, beleben die Klangfarben. Der Satz endet leise und ruhig. Auch dem immer noch lebhaften Fagott gelingt keine Wiederbelebung mehr.
Der kräftige und ernste 3. Satz, ein schnelles burleskes Rondo, entspricht vielleicht dem Scherzo früherer Sinfonien. In seiner Vielfalt, seinen schrillen Holzbläsern, die mit eingeworfenen Soli stellenweise an Richard Strauß denken lassen, in gesanglicheren Zwischenspielen wird das Thema des Doppelschlag-Trillers entwickelt, der dann auch den 4. Satz bestimmt. Auffällig das kurze Abwärtsglissando der Oboe, welches im letzten Satz von den Streichern mehrfach zu hören ist. Der 3. Satz endet bei gesteigertem Tempo als einziger dieser Sinfonie furios mit einem lauten Orchesterakkord.
Das Adagio des letzten Satzes beginnt zunächst als reiner Streichersatz mit dem gesanglich-elegischen Hauptthema, dem langsam ausgespielten Doppelschlag nach Oktavaufschwung. Die folgenden Pianissimi lassen dem Zuhörer den Atem stocken. Mit größter Aufmerksamkeit folgte das Orchester den höchst differenzierten Vorstellungen des Dirigenten, der – immer auswendig - stellenweise zusätzlich zum ausdrucksvollen Dirigat leise schnaubend seine musikalische Intensität auf das Orchester übertrug. Die 80 Minuten endeten, nach vergeblichen Versuchen den musikalischen Faden nicht abreißen zu lassen, ersterbend im ppp, auch der letzte Vorhalt kaum mehr hörbar. Lange verharrten Dirigent und Musiker am Ende, aber auch anschließend dauerte es noch geraume Zeit, bis der Applaus losbrach. Blumen, Bravi, Sonderapplaus für die einzelnen Orchestergruppen aus dem nicht voll besetzten Saal, in dem viele auch unter kontrollierten 2G-Einschränkungen vernünftigerweise während des Konzerts ihre Masken aufbehalten hatten. Die Coronazahlen steigen und die Presse klagt über Deutschlands Corona-Desaster, über die idiotische Lage von nationaler Tragweite. Jedenfalls bleibt der Verlauf der Saison unsicher. Schlimme Zeiten.
Der in Texas geborene Dirigent Carl St. Clair ist in Wuppertal nicht unbekannt. Zuletzt dirigierte der Chefdirigent des Pacific Symphonie Orchestra hier im Oktober 2017. Der ehemalige Chef der komischen Oper Berlin und Generalmusikdirektor in Weimar dirigiert regelmäßig die großen amerikanischen Orchester wie auch bedeutende deutsche, darunter alle Rundfunkorchester. Leonard Bernstein, Seiji Ozawa und Kurt Masur haben ihn gefördert.
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