Literarische Reportagen aus der Schreckenszeit

Zofia Nalkowska - „Medaillons. Erzählungen”

von Michael Zeller

Literarische Reportagen
aus der Schreckenszeit
 
Die polnische Schriftstellerin Zofia Nalkowska (1884-1954) ist eine historische Figur, für die es heutzutage kaum mehr eine Entsprechung gibt. Aus dem gebildeten Bürgertum stammend, war sie nicht nur die Autorin viel gelesener Romane, die ein Abbild ihrer Zeit und ihres Landes gaben, sondern sie war auch eine zelebre Attraktion der Warschauer Gesellschaft. Sie führte einen Salon, in dem sich beileibe nicht nur die Literaten- und Künstlerschaft ein Stelldichein gab, sondern, ganz selbstverständlich, Generäle, Minister, Abgeordnete, Journalisten sowieso. Ihr Salon war ein Treffpunkt der einflußreichen Größen der polnischen Gesellschaft. Kein Wunder, daß Nalkowska nicht nur in ihren Berufsverbänden prominent aktiv war (im PEN-Club, in der Akademie für Literatur). Im Zweiten Weltkrieg nahm sie auch ein Mandat des Polnischen Nationalrates an und war von 1947 an Abgeordnete des Parlaments in ihrem Land. In diesen politischen Funktionen geriet sie auch in eine Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen in Polen.
 
Dadurch kam sie in unmittelbare Berührung mit den Untaten, die von den Nationalsozialisten in ihrem Land begangen worden waren. Für die Schriftstellerin, die sie war, ergab sich der naheliegende Zwang, diese Verbrechen im Wort festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. In zurückhaltend karger Sprache, um sich selbst zur Nüchternheit zu zwingen, berichtet sie von Begebenheiten, die zu begreifen bis heute noch jedes Verstehen sich weigert. Man weiß nicht, was grauenhafter zu lesen ist: Wenn Nalkowska von einer „aufs Sorgfältigste durchdachten, rationalisierten, effizienten und ständig perfektionierten Organisation” in den Vernichtungslagern spricht, oder wenn sie einen einzelnen Sadisten beschreibt, „der, untersetzt und muskulös, jeden Tag mit dem wiegenden Schritt eines Athleten durch die Blocks ging  und dabei den ausersehenen Opfern auf die Nieren schlug, und zwar so, daß es keine Spuren hinterließ und der Tod nach drei Tagen eintrat.”
 
Acht kurze Texte solcher Art hat Nalkowska niedergeschrieben und sie „Medaillons” genannt. Heute würde man sie am ehesten wohl als „Literarische Reportagen” klassifizieren. Verfaßt sind sie im Frühjahr und Sommer des Jahres 1945, also noch unmittelbar nach der Schreckenszeit.
 
Gerade diese authentische Zeitzeugenschaft machen sie heute, 75 Jahre danach, da die meisten Täter und Opfer nicht mehr reden können, umso wertvoller. Deshalb ist es verdienstvoll, daß Marta Kijowska sie jetzt wieder neu übersetzt hat (die erste Übertragung war 1956 in Berlin erschienen, naturgemäß im Osten der Stadt). Sehr hilfreich, gerade auch für einen deutschen Leser, ist auch das ausführliche Nachwort, in dem die Schriftstellerin Zofia Nalkowska porträtiert wird, die „Grande Dame der polnischen Literatur des frühen 20.Jahrhunderts”, und die „Medaillons” in ihr übriges literarisches Werk eingebunden werden. Einige Romane davon sind übrigens nicht ins Deutsche übersetzt. Ich jedenfalls würde die ganz gern lesen … 
 
Zofia Nalkowska - Medaillons. Erzählungen.
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Marta Kijowska
© 2021 Frankfurt/M, gebunden, 144 Seiten, Lesebändchen – ISBN:
20,- €
 
Weitere Informationen:  www.schoeffling.de