Europa unter dem Damoklesschwert der türkischen Expansion

Klaus-Jürgen Bremm – „Die Türken vor Wien“

von Frank Becker

Europa unter dem Damoklesschwert
der türkischen Expansion
 
Eine kundige militärhistorische Analyse
 
Man kann ihnen nicht zugute halten, daß sie uns den Mokka gebracht haben. Der war lediglich ein Nebenprodukt des zweimaligen gewaltigen Anrennens der Osmanen 1529 und 1683 gegen Europa, in dem heißen Wunsch, den gesamten Kontinent und den Mittelmeerraum unter ihre weltliche und religiöse Gewalt zu bringen. Das schon brüchige Oströmische Reich war 1493 durch die Eroberung Konstantinopels durch die Muselmanen erloschen, den Balkan hatten sie bereit 1500 unterworfen und sich bis an die Grenzen Österreich-Ungarns vorgearbeitet. Belgrad und Budapest waren gefallen, nun stand noch Wien als Schlüssel Europas im Weg. Der Hunger nach Macht, Landgewinn und Ressourcen war dabei mindestens ebenso Triebfeder wie der Wunsch zur Bekehrung der Ungläubigen. Der ausgeprägte Expansions- und Hegemoniegedanke spielte, wie 1939 in Europa unter Adolf Hitler und Josef Stalin und aktuell 2014/2021 in Russland unter Wladimir Putin (wir erinnern uns, daß Russland 1783 schon einmal wie 2014 gegen internationale Proteste die Krim annektiert hat) auch damals die entscheidende Rolle.
     Krieg gegen christlich-europäische Staaten haben die Osmanen seit Osman I. um 1300 bis zu ihrer endgültigen Niederlage im russisch-osmanischen Krieg 1829 unter Mahmud II. ständig geführt. Der gegenwärtige türkische Potentat Recep Tayyip Erdoğan, der das Erbe Atatürks mit Füßen tritt, täte das vielleicht auch gerne, sieht er sich doch in seinem Machtgehabe in der „Erbfolge“ der verflossenen Sultane und ihrer absoluten Macht. In Syrien hat er ja schon Grenzen überschritten, und in Afrika versucht er intensiv, den politischen wie islamischen Einfluß auszubauen. Glücklicherweise ist die Türkei nicht stark genug, so großspurig sich Erdoğan auch gebärdet. Vielleicht geht er ja deshalb mit dem einstigen Erbfeind Russland auf Schmusekurs. Aber ich schweife ab, denn das ist eine ganz andere Geschichte.
 
     Der Militär-Historiker Klaus-Jürgen Bremm hat für sein Buch „Die Türken vor Wien“ die Feldzüge der Türken des 16. und 17. Jahrhunderts zu Lande und zur See gegen das Herz Europas und die beiden entscheidenden osmanischen Belagerungen Wiens in den Blick genommen und aufgrund reichhaltiger Quellen neu aufgezeichnet. Nachdem die Türken in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in Süd- und Südost-Europa „ein Weltreich des Schreckens“ errichten konnten, griffen sie im 16. Jahrhundert plündernd, vergewaltigend, mordend, brandschatzend und Sklaven jagend mit wechselndem Glück auch Tunis, Algier, Toulon und Malta an. Der Kampf des nicht einmal einigen Europa mit dem zentralistisch absolut regierten Osmanischen Reich war ein blutiger Überlebenskampf für die Staaten des christlich mehr oder wenig aufgeklärten Europa, dessen Herrscher sogar einzelne Bündnisse und Friedensverträge mit dem Osmanischen Reich eingegangen waren. Die Expansionslust der Türken bremsen konnte das jedoch nicht.
     Am 10. Mai 1529 brach Süleyman I. mit einem Heer von knapp 100.000 auf, erreichte Wien im September und konnte die Stadt komplett einschließen. Wien wurde nicht zum ersten Mal, jetzt aber entscheidend erklärtes Ziel der massiven Angriffe, konnte sich aber behaupten. Venedig rettete sich 1573 nur durch Verrat an der „Heiligen Liga“ und einen diktierten Vertrag vor der osmanischen Besetzung. 70 Jahre später gelang es den Venezianern, die Türken zur See zu schlagen, denn der Konflikt hatte stets weiter geschwelt.
     Die massive Bedrohung des Kontinents und der Mittelmeer-Anrainer aber blieb, zumal die Türken, abgesehen von gelegentlichen Ausfällen und Scharmützeln, wenn auch 170 Jahre lang, lediglich Atem holten.
     Der „Goldene Apfel“, wie Wien bei den Osmanen genannt wurde, weckte so viel Begehrlichkeit, der Sieg schien beim neuerlichen Angriff 1693 aufgrund der osmanischen Truppenstärke von weit über 120.000 Mann so gewiß, daß auf Seiten der Angreifer wie bei der europäischen Allianz der Blick für die möglichen Hindernisse und Risiken verloren ging. Denn die Türken waren von ihrer scheinbaren Allmacht und dem lockenden Ziel geblendet. Zwar feierten die vorrückenden Truppen und ihre Vasallen Sieg auf Sieg, überrannten den Balkan und näherten sich in unglaublicher Geschwindigkeit dem Ziel Wien, doch wurde die förmlich in letzter Minute befestigte Bastion auch dank des entbehrungsreichen Einsatzes der Bürgerschaft und der Stadtwehr für die Angreifer ein sehr saurer Apfel.
     Während sich der dekadente Adel in Sicherheit brachte und Leopold I. aus Wien nach Passau floh, organisieren Bürgermeister Johann Andreas von Liebenberg und der Stadtkommandant Feldzeugmeister Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg in aller Eile Schanzarbeiten und Verteidigung. Im Feld stellten sich – ebenfalls in allerletzter Minute – nach zähen Verhandlungen Entsatzarmeen der Kaiserlichen, der Polen unter Jan Sobieski, der für sich dadurch den Königstitel erzwang, Bayern, Venedig, Lothringen und Sachsen sowie der südwestdeutschen Fürstentümer dem angreifenden Heer von Türken und Tataren. Frankreichs König Ludwig XIV. stellte sich passiv auf die Seite der Türken, weil er sich dadurch die Habsburger vom Hals zu schaffen glaubte. Wien fiel nicht. Der Anfang vom Ende des Osmanischen Reichs.
 
     Bremm untersucht in seinem Buch die Bündnisse der europäischen Mächte mit den Herrschern am Bosporus und stellt zudem die damals in Europa vorherrschenden ›Türkenbilder‹ in vielen Facetten und Einzelheiten dar. Ein farbiges Geschichtspanorama, das die Türkenkriege und die stetige Bedrohung Ost- und Zentraleuropas durch das Osmanische Reich über mehr als zweieinhalb Jahrhundertenicht nur kenntnisreich analysiert, sondern auch bilderreich erzählt.
 
Klaus-Jürgen Bremm – „Die Türken vor Wien“
Zwei Weltmächte im Ringen um Europa
© 2021 wbg Theiss, Darmstadt, 462 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ca. 30 s/w-Abb. und Karten, Bibliographie, Namensregister, 14,5 x 21,5 cm – ISBN: 978-3-8062-4132-7
29,- € (23,20 € für Mitglieder der wbg)
 
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