Lämmerhirt um Längen voraus (1)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
I
 
Am 65. Geburtstag von Herrn Lämmerhirt geschah etwas Merkwürdiges.
Herr Lämmerhirt stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Er hatte seinen schwarzen Anzug hervorgeholt, gebürstet und angezogen. Er war mit Freunden im Restaurant verabredet, denn ein 65. Geburtstag muß angemessen gefeiert werden.
In diesem Augenblick trat hinter ihn eine schmale, helle Gestalt, lautlos und sanft zugleich. Sie hatte offenbar nicht die Tür benutzt, denn diese war verschlossen, und über der Türklinke hingen einige Krawatten.
Die Gestalt trug eine Art weißes Nachthemd und strich sich das lange helle Haar ein wenig verlegen zurück. „Erschrecken Sie nicht, Herr Lämmerhirt ”, sagte sie mit leiser, aber klangvoller Stimme, „ich bin zwar ein Geist, aber ich komme in guter Absicht.”
Herr Lämmerhirt drehte sich herum, er konnte seine Überraschung nicht verbergen, und etwas mulmig war ihm auch. „Ein Geist in guter Absicht”, fragte er, „wie soll ich das verstehen?”
„Nun,” antwortete der Geist und versuchte seine langen Haare glatt zu streichen, „ich wollte Ihnen zum 65. Geburtstag ein Geschenk machen. Sie können länger werden, wenn Sie sich das wünschen.”
„Aber,” sagte Herr Lämmerhirt, nun doch verwirrt, „warum sollte ich mir eine andere Länge wünschen? Ich bin nicht klein und mit meiner Statur ganz zufrieden.”
„Stellen Sie sich vor, daß Sie über das Häusermeer hinwegsehen könnten, bis hin zu den Bergen oder gar bis zum Meer?” hob der Geist hervor, „Sie gewinnen ganz neue Sichtweisen. Damit sind Sie den meisten Menschen überlegen.”
Herr Lämmerhirt dachte daran, daß er in Dachwohnungen spähen könnte. Ein nicht uninteressanter Gedanke, aber eigentlich wollte er nicht in die Privatsphäre anderer Menschen eindringen. Also sagte er kurz: „Ein anderes Geschenk wäre mir lieber!”
Der Geist senkte betrübt seinen Kopf. „Aber ich habe nur dieses Geschenk, lieber Herr Lämmerhirt. Glauben Sie mir, es hat lange gedauert, bis ich wieder dazu ausersehen wurde, einem Menschen ein Geschenk zu machen. Enttäuschen Sie mich, bitte, nicht!”
Herr Lämmerhirt betrachtete den Geist, der nun traurig aussah und geradezu armselig wirkte. Er überlegte: die Gabe, seine Gestalt nach Bedarf länger zu machen, war so schlecht nicht. Er mußte es nicht tun; nur, wenn er Lust dazu hatte, konnte er von der Gabe Gebrauch machen.
„Also gut,” sagte er ernst, „ich nehme Ihre Gabe an. Was muß ich tun, um länger zu werden? Und wie kann ich meine normale Größe zurückgewinnen?”
„Ganz einfach”, erklärte der Geist eilfertig, „die Augen schließen und sagen: bitte länger! Wenn die erreichte Länge Ihnen ausreichend erscheint, ein Halt! rufen. Wenn Sie Ihre normale Gestalt zurückgewinnen wollen, sagen Sie mit geöffneten Augen: Ich will werden, wie ich war!”
„Das ist alles?” fragte Herr Lämmerhirt.
„Das ist alles!” bestätigte der Geist, „einfacher geht es nicht!”
Damit verschwand er, wie ein Bild plötzlich verblassen kann, lautlos und rasch.
 
II
 
Herr Lämmerhirt rieb sich seine Stirn und sah ein wenig ratlos auf sein Spiegelbild. Dann aber nahm er sein Notizbuch hervor, denn er war ein gewissenhafter Mensch, und trug ein, was der Geist gesagt hatte. Bei derartigen Prozeduren durfte man keinen Fehler machen.
Er sah auf seine Taschenuhr und erkannte, daß er sich nun beeilen mußte. Schließlich war er die Hauptperson beim Treffen im Restaurant, da durfte er nicht zu spät kommen.
Er nahm die Krawatten von der Türklinke und legte sie auf die Bettdecke. Der offene Hemdkragen stand ihm gut, und Krawatten trugen eigentlich nur alte Herren.
 
 
Er verließ seine Wohnung im vierten Stockwerk des Mietshauses und eilte die Treppen hinab. Als er die Haustür erreichte, stutzte er und suchte nach den Schlüsseln.
Er fand sie nicht und war sicher, er hatte den Wohnungsschlüssel mit dem gesamten Schlüsselbund in seinem Türschloß stecken gelassen. Das war ihm in der letzten Zeit schon einige Male passiert.
Also erneut nach oben steigen, denn einen Aufzug gab es nicht.
Als Herr Lämmerhirt im Treppenhaus nach oben blickte, kam ihm ein Gedanke: Warum nicht seine neue Gabe ausprobieren? Das Haus war still – er konnte es versuchen.
Er schloß die Augen und flüsterte: Bitte länger! Schon bemerkte er, wie sein Kopf nach oben glitt, an den Stockwerktüren vorbei, langsam und unauffällig, geräuschlos und unangestrengt. Als er seine Wohnungstür erblickte, befahl er: Halt! und siehe da, der Prozeß des Wachsens endete.
Sein Wohnungsschlüssel mit dem gesamten Schlüsselbund stak im Türschloß, und Herr Lämmerhirt konnte ihn leicht ergreifen. Dabei schwankte er ein wenig und mußte sich am Treppengeländer festhalten. Er war kein mächtiger Riese geworden, einfach nur länger, und das hieß: auch ziemlich schmal.
„Ich will werden, wie ich war!” sagte Herr Lämmerhirt leise und glitt bis vor die Haustür zurück, wo er nun in seiner normalen Größe stand und die Schlüssel in seine Rocktasche steckte.
Im selben Augenblick wurde die Haustür von außen aufgestoßen, und Familie Müller, Vater, Mutter und zwei halbwüchsige Kinder traten ein. Herr Müller nickte Herrn Lämmerhirt flüchtig zu, um dann die Kinder zur Ordnung zu rufen, denn diese stürmten mit Indianergeheul die Treppenstufen empor.
„Das war knapp!” murmelte Herr Lämmerhirt und verließ das Haus.
 

Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021