Lämmerhirt um Längen voraus (2)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
III
 
Auf der Straße atmete er tief durch, blieb einen Augenblick stehen und kontrollierte seine Bewegungsmöglichkeiten. Alles wie bisher, keine Gelenkprobleme, kein Kribbeln in den Muskeln. Die körperliche Verlängerung und ihre Rückführung hatten keine Spuren hinterlassen.
Mit Elan eilte Herr Lämmerhirt zu dem Restaurant, wo schon zahlreiche Gäste warteten und immer neue hinzukamen. 65. Geburtstag – ein Anlaß zum Feiern. Apéritif, Trinksprüche, Gabelbissen und Lachshäppchen, Weißwein und Bier, die erste Rede, Musik-Einlage, Gedichtvortrag, Beifall, Lachen, die 2. Rede, Schinkenröllchen und Weißbrot, usw. usw.
Die festliche Veranstaltung dauerte bis in die Nacht. Das Verabschiedungsritual, bewegende Worte, Schulterklopfen, Umarmungen usw. Herr Lämmerhirt ging als letzter, untergehakt mit seinem Jugendfreund Bruno, dessen Wohnung im selben Stadtviertel lag. Sie überquerten die Hauptstraße mit pulsierendem Großstadtverkehr und wählten die Promenade mit den mächtigen Platanen. Ein Umweg, aber ein ruhiges Gehen unter den Bäumen.
Warum Herr Lämmerhirt plötzlich stehen blieb und seinen Freund bei den Schultern packend den Satz herausstieß: „Also heute ist mir etwas passiert, unglaublich!” wußte er selbst nicht. Aber das Geheimnis der Gabe des weiß gekleideten Geistes mußte heraus und einem anderen Menschen anvertraut werden.
Hastig erzählte er die ganze Geschichte und sah das wachsende Staunen im Gesicht seines Freundes. „Was sagst du dazu?”
Bruno rang um Fassung. Dann japste er: „Also du hast schon bessere Geschichten erfunden!”
Herr Lämmerhirt sah seinem Freund in die Augen. „Aber alles ist wahr, Wort für Wort!”
Bruno starrte zurück, schüttelte den Kopf und sagte fast tonlos: „Den Beweis – den Beweis mußt du erbringen! Sonst glaube ich nichts!”
Herr Lämmerhirt trat einen Schritt zurück, sah nach oben und schloß die Augen. „Bitte länger”, flüsterte er. Zwischen den alten Platanen war genügend Platz. Blätter und kleine Äste streiften seinen Kopf. Über den Wipfeln gebot Herr Lämmerhirt „Halt!” und sah sich um. Ein schöner Ausblick auf die beleuchtete Stadt!
„Was sagst du nun?” fragte er nach unten, wo sein Freund mit verdrehtem Hals emporstarrte.
„Phänomenal!” krächzte der, „einfach phänomenal! Aber nun komm wieder runter!” Geräuschlos fuhr Herr Lämmerhirt in seine normale Größe zurück.
„Aber du mußt was daraus machen!” keuchte Bruno mit gerötetem Gesicht. „Das ist, das ist …” „Phänomenal” versetzte Herr Lämmerhirt, „ich weiß. Im übrigen vergiß nicht, daß ich in Rente gehe!”
Bruno gab nicht auf: „Mensch, du könntest Hochspannungsleitungen testen, Fernsehtürme und Atommeiler inspizieren, Dachkonstruktionen von Wolkenkratzern überprüfen …”
„Hör auf!” verlangte Herr Lämmerhirt ziemlich barsch, wie das sonst nicht seine Art war. „Ich habe mit Technik nichts im Sinn. Warum sollte ich im Ruhestand derartige Arbeiten auf mich nehmen?! Ich will meine Ruhe!”
Bruno schwieg und blickte mürrisch vor sich hin.
„Daß du keinem Menschen von meinem Geburtstagsgeschenk besonderer Art etwas erzählst!” sagte Herr Lämmerhirt nachdrücklich. „Das ist meine Privatsache, und sie bleibt unter uns!”
Bruno nickte, umarmte seinen Freund flüchtig und wandte sich einem schmalen Weg zu. „Tschüs!” rief er und entfernte sich mit beiden Händen wedelnd. „Ich nehme die Abkürzung!”
Herr Lämmerhirt sah ihm nach und sog die frische Luft der Promenade ein, dann schritt er rüstig voran.


Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021