Lämmerhirt um Längen voraus (5)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
VII
 
Es dauerte nur wenige Minuten und ein junger Geistlicher trat mit einer Verbeugung ein. „Der Herr Kardinal läßt Herrn Lämmerhirt und Prälat Saletta bitten”, sagte er, dann, zu Monsignore Lachmund und Dechant Rommerskirchen gewandt: „für Sie ist ein Glas Wein im Empfangszimmer II serviert.”
Die beiden Geistlichen schienen nicht überrascht zu sein, daß der Kardinal auf ihre Anwesenheit verzichtete. Monsignore Lachmund flüsterte seinem Freund zu: „Ein ausgezeichneter Burgunder!”
Herr Lämmerhirt folgte in Begleitung des päpstlichen Prälaten dem jungen Geistlichen bis zu einer hohen Flügeltür. Dieser klopfte, ging hinein, als ein „Herein” ertönt war, und meldete die Gäste. Dann trat er zur Seite und verschloß die Tür hinter ihnen.
 
Der Kardinal stand hinter seinem Schreibtisch, ein hochgewachsener, jugendlich wirkender Mann mit einem schmalen Gesicht. Er hatte beide Hände zu einer Gruß-Geste in Höhe seines Brustkreuzes erhoben, lächelte freundlich und bat, Platz zu nehmen.
Herr Lämmerhirt setzte sich in einen der beiden bequemen Sessel, die vor dem Schreibtisch des Kardinals standen. Was würde nun kommen?
Der Kardinal sah vor sich hin, als müßte er seine Gedanken sammeln, dann begann er: „Kommen wir gleich zur Sache. Der Heilige Vater hat einen schweren Traum gehabt.”
Herrn Lämmerhirt stockte der Atem. Warum wurde er in Sachen des Heiligen Vaters ins Vertrauen gezogen? Was konnte er ausrichten? Aber bevor seine Aufregung sich noch steigerte, fuhr der Kardinal fort:
„In diesem Traum ist der Heilige Vater darauf hingewiesen worden, daß die Kuppel des Peter-Domes einen Riß aufweise. Daß dieser Riß gefährlich sei und St. Peter zum Einsturz bringen könne, wenn Witterungseinflüsse weiteren Schaden bringen sollten.”
Plötzlich wußte Herr Lämmerhirt, warum man ihn gerufen hatte. Er sollte in Rom den Riß ausfindig machen und die gesammelten Informationen weitergeben.
So weit war der Kardinal noch nicht. Er sprach jetzt wie ein sachverständiger Architekt und führte aus, Michelangelo sei bei der Konstruktion der Kuppel nicht mehr vom Achteck, sondern vom Kreis ausgegangen und habe die Kuppel nicht, wie von Bramante geplant, als Halbkugel ausgeführt, sondern stark überhöht.
Herr Lämmerhirt hörte nur halb zu. Er mußte nach Rom und die Kuppel untersuchen. Das stand ihm bevor. Er wußte es!
Inzwischen dozierte der Kardinal, wenn man die Kuppel im einzelnen betrachte, dann sehe man, daß sich über einem breiten massiven Ring über dem Baukörper der Tambour erhebe, der durch paarweise gekoppelte Säulen gegliedert werde. Von der Attika darüber stiegen Rippen zur Laterne auf, die ebenfalls von Doppelsäulen umgeben und mit Voluten und Kandelabern geschmückt sei.
Was waren Voluten, was eine Attika? Herr Lämmerhirt hatte keine Ahnung, und es war ihm auch egal. Er wartete auf das Wort des Kardinals: „ … und daher bittet Sie, Herr Lämmerhirt, der Heilige Vater …”
 
VIII
 
Es kam, wie vorausgeahnt. Natürlich zeigte sich Herr Lämmerhirt bereit. Die Zeit danach verging im Flug, und das war zum Teil wörtlich zu nehmen. Denn Prälat Saletta und er saßen im Flugzeug nach Rom und landeten dort, unauffällig und unbefangen.
Das kleine Auto des Prälaten brachte sie zum Vatikan. Prälat Saletta parkte in einer schmalen Nebenstraße und führte Herrn Lämmerhirt an einer hohen Mauer entlang zu einer unscheinbaren Pforte, eine der vielen Zugänge zum Vatikan. Bald schon erreichten sie ein Haus mit vielen Zimmern, begegneten Nonnen und Priestern, die flüchtig grüßten, und betraten einen Raum, der sparsam eingerichtet war, aber einen schönen Ausblick in die vatikanischen Gärten gestattete. Auf dem Bett lagen eine schwarze und eine helle, cremefarbene Soutane. „Die beste Tarnung,” nickte Prälat Sarletta, „Frühstück wird Ihnen hier um 7 Uhr serviert. Danach hole ich Sie ab.”
In der Nacht schlief Herr Lämmerhirt unruhig. Ungewohnte Geräusche im Haus und viel Glockenläuten draußen. Aber die Sonne schien am Morgen auf sein Bett, und das Frühstück war gut. „Vortrefflich,” sagte Herr Lämmerhirt und trat an das Fenster.
Nur wenige Minuten später erschien Prälat Saletta, munter und behende, half Herrn Lämmerhirt in die schwarze Soutane und nannte ihn plötzlich „caro professore”. Dann bereitete er ihn darauf vor, daß ein Gespräch mit zwei Herren stattfinden werde. Der eine war der kunstwissenschaftliche Berater des Papstes, der andere der leitende Baumeister von St. Peter.
Man traf sich in einem hohen Raum mit imponierendem Deckengemälde. Die italienischen Experten, ein kleiner spitzbärtiger Greis und ein hochgewachsener Mann, der ein wenig wie Michelangelo aussah, begrüßten den „professore tedesco” freundlich und respektvoll. Sie sprachen italienisch, und Prälat Saletta, der einige Jahre in der Nuntiatur in Berlin zugebracht hatte, übersetzte ins Deutsche.
Beide waren redselig, fielen manchmal einander ins Wort und gestikulierten heftig. Herr Lämmerhirt hörte kaum hin, wenn Prälat Saletta flüsternd die Übersetzung lieferte. Er war gebannt von dem fein gearbeiteten Modell des Peterdomes, das auf einem großen Tisch stand.
Das Resultat der Unterredung war der Entschluß, die Kuppel von der Gartenseite zu „besteigen”, den Schaden ausfindig zu machen, auf einem Bauplan zu kennzeichnen und fotografisch zu dokumentieren. Das Unternehmen sollte am nächsten Tag in aller Frühe starten.
 
Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021