In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen

Märchenforscher gehen zu oft verschiedene Wege

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen
 
Märchenforscher gehen zu oft verschiedene Wege
 
Von Heinz Rölleke
 
Man hat mich in den verschiedensten Medien seit Jahren zuweilen überschätzt als „Märchenpapst“ oder auch unterschätzt als „Märchenonkel“ vorgestellt. Beide Titel waren und sind mir nicht recht: Der erste scheint Unfehlbarkeit zu versprechen (ich halte meine Lehrmeinungen nicht für unfehlbar), der zweite zielt auf den Umgang mit Kindern, die man sich gegenwärtig offenbar als allein noch an märchenhaften Geschichten Interessierte vorstellen kann (ich pflege hauptberuflich weder Märchen zu erzählen noch vorzulesen oder gar zu schreiben, obwohl man mir das immer unterstellen will). Seriös muß man also sagen, daß beide Titel unangemessen sind. Allerdings wäre zu folgern, daß man zum Einen auf ernsthafte Märchenforschungen, zum Anderen auf kuschelige Vorlesungsstunden im Umgang mit der angeblich so heilen Märchenkinderwelt abzielt.
 
Was meine Position auf dem weiten und seit 200 Jahren reich bestellten Feld der Märchenforschung angeht, so fühle ich mich als Philologe und Volkskundler streng den Bereichen und Methoden meiner Wissenschaftsdisziplinen verpflichtet. Dabei bin ich bis heute überzeugt und durch viele Erfahrungen bestätigt, daß beide Aspekte zu den unabdingbaren Grundlagen jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Märchen gehören: Ehe man etwas interpretiert oder als Beleg für eigene Ideen heranzieht, muß man einen gesicherten Text vor sich haben, den man zumindest seinem Wortlaut nach  richtig versteht; erwünscht und oft unverzichtbar sind ferner Kenntnisse über die Herkunft dieser ursprünglich anonym tradierten Geschichten im umfassenden Sinn: Wo waren sie (seit) wann verbreitet, sind sie dort entstanden oder 'eingewandert', wurden sie (überwiegend) schriftlich oder mündlich überliefert, wer hat sie 'Letzter Hand' aufgezeichnet und ihnen durch Drucklegung ihre heute allgemein bekannte Gestalt gegeben?
Kein Geringerer als Goethe hat die Wichtigkeit einer letzten Textüberarbeitung in der Traditionskette der Volksliteratur erkannt und diese ausdrücklich gebilligt:
 
            „Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den          
            Mund des Volkes eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in            
            letzter Instanz aufzeichnet, nicht auch  ein gewisses Recht daran haben?“
           
Goethe wußte als einer der ersten kompetenten Aufzeichner (elsässischer) Volkslieder vom Nach- und Nebeneinander mündlicher und schriftlicher Traditionen und welche unbewußten oder bewußten Veränderungen an diesen Zeugnissen statthatten, über deren Herkunft, Form und Inhalt man natürlich vor der ersten schriftlichen Fixierung nichts wissen kann.
 
Es gibt außer der Märchenforschung nur wenige geisteswissenschaftliche Fachdisziplinen, die in solcher Vielfalt von Vertretern anderer Wissenschaften ergänzt, durchkreuzt, aber nur selten hinreichend befragt oder gründlich zur Kenntnis genommen werden. Von den wissenschaftlichen Richtungen, die sich auch mit Märchen befassen, seien nur einige genannt: Mythologie, Theologie, Astronomie, Philosophie, Urgeschichte, Altphilologie, Volkskunde, Literaturwissenschaften, Soziologie, Pädagogik, Tiefenpsychologie, Psychoanalyse, Theosophie, Anthroposophie. Meist geht es bei entsprechenden Forschungen nicht um ein Märchen als Ganzes, sondern um Bruchstücke, mit denen eigene Thesen gestützt oder bewiesen werden sollen. Allerdings werden zuweilen auch vollständig Märchentexte als Beleg für die Stimmigkeit einer leider oft radikal einseitigen Ausdeutung benutzt, so zum Beispiel „Der Hase und der Igel“, das die Brüder Grimm 1843 aus einer Veröffentlichung Wilhelm Schröders im Hannoverschen Volksblatt (16.4.1840) übernommen hatten. Astralmythologische Deuter datieren die Entstehung dieses Textes ungeachtet anderer Forschungsergebnisse in der Urzeit und setzen ihn Eins zu Eins in ihre unhinterfragte Ausdeutung um. „Swinegel“ und „Haas“ sind Tiere, die für ein Astralsymbol stehen, weil der Igel Stacheln wie Strahlen einiger Himmelskörper hat und weil dem Hasen beim schnellen Lauf seine langen Löffel um die Ohren fliegen, so daß er einem Quasar ähnelt. Diese beiden tierischen Astralsymbole machen einen Wettlauf auf einem Feld, dessen Kohlköpfe den Sternenhimmel repräsentieren. Nach 74 Durchläufen fällt der Hase tot um, „datt Blohd flög em utn Halse“, und dieser Blutstreifen zwischen den kreisrunden Kohlköpfen (im Grimm-Text handelt es sich allerdings um das eingangs berufene „Stähkröwen“-Feld des Igels) bedeutet die Aufklärung über die Entstehung der Milchstraße.
 
Ansonsten greifen sich die Märchendeuter der verschiedensten Richtungen ein Motiv oder eine Episode aus den Texen heraus, die ihre vorgefaßte Deutung (scheinbar) unterstützt. Das heißt: Man betrachtet das Märchen nicht als eigenständiges Kunstwerk, sondern benutzt es sozusagen als Steinbruch. In dem sehr weit verbreiteten Buch „Märchendeutungen“ (1. Auflage 1913, 2. Auflage 1920) liest man zu „Rotkäppchen“:
 
            „We-ol-fa, Wehwissenserzeuger ist die Bedeutung des Wortes Wolf.        
            Er gehört zu den dunklen Mächten, die das Denken des Menschen          
            vom rechten Wege abführen. Wie sicher, wie allbeliebt zieht das   
            Rotkäppchen am Himmel seine Bahn: die leuchtende Sonne, von der      
            man nur das rote Käppchen sieht. Der Wald meint die „Waltung“, die     
            geschehensvolle Welt. Die Großmutter hinter dem Wald ist die    
            Verkörperung des Urzustandes der Welt.“
 
Vieles wäre zu sagen dazu. Es sei ein Detail herausgegriffen. Der Wolf hieß indogermanisch *ulkuo-s oder (durch Lautumstellung) *lukuo-s. Beide Varianten bedeuten „der Reißende“. Sie sind in den moderneren Sprachen erhalten, im Altgriechischen und Lateinischen gemäß der Lautumstellung 'λυκος' (LYKOS) und 'lupus', im Althochdeutschen nach der ursprünglichen Form 'wolf'. Das und manches andere hätten die Astralmythologen mit einem Blick über den Grenzzaun der eigenen Wissenschaft erfahren können, aber in der Regel interessiert es nicht oder man fürchtet, damit die eigene Theorie zu gefährden. Zwar sind „in meines Vaters Haus viele Wohnungen“, wie das Evangelium (Johannes 14.2) sagt, und auch die verschiedenen Forschungsrichtungen haben sich ihr eigenes Domizil abgesteckt. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn man nur Blicke in die anderen Wohnungen werfen würde – man könnte einander fruchtbar ergänzen oder eben auch gravierende Fehler vermeiden.
 
Wie gut das wäre, habe ich an der Bergischen Universität Wuppertal einmal eindrucksvoll erlebt: Mein mathematischer Fachkollege rief mich  an und sagte, er habe das Geheimnis der Zahlen 12 und 13 im „Dornröschen“ durch astronomische Berechnungen gelüftet. Meine Frage, ob er außer der Grimm'schen Märchenfassung auch ältere Zeugnisse dieses Textes berücksichtigt hätte, mußte er verneinen. Als ihm klar wurde, daß „Dornröschen“ schon 110 Jahre vor Grimm bei Perrault gedruckt sei und von dort eine direkte mündliche Tradition zu Grimms Märchen führe, resignierte er und veröffentlichte seine Forschungsergebnisse nicht. Bei Perrault sind es sieben gute und eine böse Fee; daraus machte die mündliche Märchenüberlieferung im Deutschen im Blick auf die Unglückszahl 13 zwölf glück- und eine todbringende Weise Frau. Uralte astronomische Spiegelungen kann man in den erst in jüngerer Zeit fast willkürlich gesetzten Zahlen beileibe nicht erkennen. Die Grimms haben diese im Hessischen kursierende Fassung in ihre Sammlung aufgenommen und nicht etwa Perrault nachgedruckt (deswegen fiel auch die zweite Hälfte des Märchens ersatzlos aus, und viele Details in der Erzählung des französischen Hofdichters wurden im Lauf der Zeit verbürgerlicht). In diesem Fall erwies sich also ein Blick in eine andere Wohnung des großen Märchenhauses als hilfreich.
 
Der umstrittene Theologe Eugen Drewermann veröffentlichte zeitweise in jedem Jahr eine eigenwillige Interpretation zu einem Grimm'schen Märchen, ohne sich um die philologischen Grundlagen zu kümmern. Die Folgen sind nicht unerheblich. 1983 erschien „Schneeweißchen und Rosenrot“ in „tiefenpsychologischer Deutung“ mit der Bemerkung in der Titelei „Der Text ist in der Fassung der Grimmschen 'Kinder- und Hausmärchen' von 1819 wiedergegeben“; tatsächlich wurde jedoch die Grimm'sche  Fassung Letzter Hand von 1857 als Grundlage der Interpretation abgedruckt. Der Irrtum geht wohl auf eine flüchtige Benutzung eines der häufigen Neudrucke dieser Ausgabe zurück, in denen ausdrücklich immer belegt wird, daß es sich um das von den Grimms allen Editionen zwischen 1819 und 1857 mit dem Datum „Cassel, am 3ten Julius 1819“ vorangestellte „Vorwort“ handelt. Als in einer Rezension auf den Fehler hingewiesen wurde, bat der Verleger den Autor, diesen in der Neuauflage seines Buches zu korrigieren. Das lehnte Eugen Drewermann zum Kummer des Verlegers strikt ab: Noch deutlicher kann sich die Ignoranz, ja die Verachtung aller philologischen Erkenntnisse nicht ausdrücken. Das wiegt umso schwerer, als der Autor offenbar weder bei Erstellung der Erst- noch der Zweitauflage immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollte, daß „Schneeweißchen und Rosenrot“ 1827 auf Wunsch Wilhelm Hauffs von Grimm gedichtet und erst 1833 in die „Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommen worden war. Einen Text von 1819 hat es nie gegeben. Immerhin meinte Drewermann erkannt zu haben, daß das Märchen bei Grimm „nicht getreu der gefundenen Vorlage“ wiedergegeben sei. Da wüßte man doch gern, wie die „Vorlage“ ausgesehen hat, denn diese und die Grimm'sche Dichtung hält er für interpretierenswerte Zeugnisse einer uralten, in jedem neuen schriftlichen Beleg leicht verändert begegnenden Tradition, die für den Psychologen „einen unschätzbaren Gewinn“ darstelle. Die volkskundliche und philologische Beschäftigung mit einem Märchen von dessen erster Nachweisbarkeit bis zur kanonisch gewordenen Umformung durch die Brüder Grimm trage hingegen nichts zum eigentlichen Verständnis der alten Geschichten bei, so daß man behaupten könne, „ein Märchen auch in der Fassung die W. Grimm ihm gegeben hat, sei nach der Art eines antiken Mythos auszulegen.“ Auch hapert es bei dieser Methode wie oft in tiefenpsychologischen Märchendeutungen am Wortverständnis, wenn „Sommervögel“ ('Schneeweißchen und Rosenrot') fälschlich als Singvögel und nicht als Schmetterlinge oder die echt hessische Bezeichnung „Frau Gothel“ für eine Patentante ('Rapunzel') als Anspielung auf eine germanische Göttin gedeutet werden. Auf welche Irrwege das führen kann, zeigen die verschiedenen Übersetzungen der Bezeichnung „Unke“ ('Märchen von der Unke'), in denen das Tier archetypisch wechselweise als Kröte oder als Natter identifiziert wird, und man den Grund dafür nicht wissen will: Im allgemeinen Sprachgebrauch faßte man um 1800 die Unke als Kröte auf (vgl. Unkenrufe), im Niederhessischen der Brüder Grimm aber als Natter – was übrigens seit 1815 in den Grimm'schen Anmerkungen zu diesem Märchen nachzulesen ist.
 
Unter den sich von der Philologie bewußt absetzenden Märchendeutungen sind die tiefenpsychologischen anscheinend die radikalsten – dafür mag man im Blick auf die verschiedenen Wohnungen im großen Märchenhaus einiges Verständnis aufbringen. Mißlich wird die Interpretationsmethode allerdings, wenn man sie den Märchenlesern und -liebhabern als allein seligmachende anpreist. Im umfassenden Hochgesang auf Drewermann anläßlich seines 80. Geburtstags liest man in der FAZ vom 20. Juni 2020 zur Methode seiner Märchenerläuterungen folgendes Lob:
 
            Zur Festigung seiner Thesen „schiebt der Großautor alle historisch-          
            kritische Methodologie zur Seite […]. Wo das [was der Interpret
            herauslesen möchte] so in den Texten         
            nicht drinsteckt, wird es mit tiefenpsychologischer Exegese hineingelesen.“
 
Diese für die Literaturwissenschaft (und Märchen sind Literatur) völlig unannehmbaren, mit Absolutheitsanspruch praktizierten Verfahren entbehren jeglicher Seriosität. Sie sind indes von einer ungewöhnlich großen Drewermann-Gemeinde, der ein Blick in die Nachbarwohnungen des Märchenhauses geradezu verboten wurde, bedingungslos übernommen und nachgesprochen worden.
 
Es ist eine schöne, aber wohl utopische Vorstellung, daß die unendlich vielen Märchenfreunde in aller Welt miteinander in ein vorurteilsfreies Gespräch über diese wunderbaren Geschichten kämen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022