Das ist nicht so, das ist ganz anders

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Das ist nicht so, das ist ganz anders
 
Es gab auch im Jahr 2021 schöne Momente, an die ich mich später erinnern werde. Ich habe eine Begebenheit in Elsen vor Augen, bei der ich mal spüren durfte, wie wunderbar albern das Leben sein kann. Ich wollte mit einer Freundin in Elsen spazieren gehen und parkte am Rand eines Feldweges. Beim Verlassen des Autos bemerkte ich, daß auf dem dort aufgestellten Stromkasten „Sextref“ geschrieben stand. Hoffte ich zuerst, daß mich niemand vor diesem Sextref entdecken würde, fand ich die entstandene Situation schließlich sehr komisch. So konnte ich es mir nicht verkneifen, einem älteren Ehepaar, welches gerade auf dem Feldweg spazieren ging und mich anklagend ansah, ein: „Das ist nicht das, wonach es aussieht“ herüber zu rufen. Ich fühlte mich in diesem Augenblick unwiderstehlich, war mir aber nicht sicher, ob das ältere Ehepaar meinen Witz verstanden hatte, zumal der Mann auf das Graffiti zeigte und bemängelte: „Da fehlt ein f“. Später erklärte mir meine Freundin, daß das ihr ehemaliger Deutschlehrer gewesen war. Ich liebe seitdem diesen Sextref mit einem f. Manchmal fahre ich dort hin und schaue einfach verschämt auf den Boden. Gibt es etwas Schöneres als an einem Sextref zu stehen und verschämt auf den Boden zu schauen? Die Welt ist doch gar nicht so unpoetisch, wie man vermuten könnte. Selbst in Sparkassen und Geldpalästen gibt es noch liebenswerte Rituale, die dem dort gelagerten Geld einen Hauch von Unschuld geben können. Ich mag die Schlitze in unseren Sparkassen, in denen wir unsere Überweisungen schieben müssen. Ich meine, wir waren auf dem Mond und haben Autos, die von alleine, ganz ohne Fahrer, in einen Stau fahren können, und trotzdem schieben wir noch unsere handgeschriebenen Überweisungen in kleine Schlitze, in die sonst nichts paßt als diese Überweisungen. Das ist liebenswert und skurril. Diese Schlitze sind ein Überbleibsel einer Welt, in der wir einer Frau noch die Tür aufhielten und weinten, wenn ein Luftballon fortflog. Ich mag es auch, daß bei „Tonis Pizza Express“ in der Kilianstraße 13 das Brot, das man zum Salat essen will, gleich als Dekoration im Salatoutfit zu finden ist. Welch lustige und praktische Idee. Man spart die Tüte und hat die Salate gleich lieferfertig zur Hand. Wie schön, wenn der Mensch mit unschuldigen Ideen versucht sein Leben in den Griff zu bekommen. Ich bin auch immer gerührt, wenn ich an der Poststelle gefragt werde, ob ich die Briefmarken selbstklebend oder naßklebend haben will und sie dann in ein Tütchen geschoben bekomme, das eigens dafür gemacht wurde, um diese gezackten Kleinkunstwerke zu schützen. Am liebsten möchte man doch alle naßklebenden Briefmarken in einem Rutsch abschlecken und schnell irgendwo hinkleben, oder? Es wird nicht die Perfektion sein, die unsere Welt liebenswerter macht. Es ist das Pflegen unserer Hilflosigkeit und das Auffrischen unseres kindlichen Humors. Das gibt unserem Leben die Würde zurück. Die Erde ist ein Sextref und wenn wir Glück haben kommt jemand vorbei und umarmt uns. Auf nach Elsen.
 
 
 © 2022 Erwin Grosche

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