Kunstwissenschaftler und Weltbürger

Otto von Simson 1912–1993 - Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik

von Joachim Klinger

Kunstwissenschaftler und Weltbürger
 
Otto von Simson (1912-1993)
 
Von Joachim Klinger
 
I
Zum Weihnachtsfest 2021 schenkte mir meine Tochter Nadja dieses Buch, das ich nicht kannte, und machte mir damit eine große Freude. Ich empfehle es nachdrücklich allen anspruchsvollen Lesern.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, möge sich nicht täuschen lassen durch den Einbanddeckel, der aussieht wie ein Familienalbum mit Portraitfotos aus unterschiedlichen Lebensphasen. Der Inhalt führt in beglückender Weise in Bereiche der Kunst und der Architektur ein und stellt dazu höchst spannend die Verbindung zum Zeitgeschehen im 20. Jahrhundert her. Man hätte das besser sichtbar machen können durch schöne Fotografien von der Kirche San Vitale in Ravenna, von Notre Dame in Paris, der Skyline von Chicago und dem Berliner Stadtschloss.
Otto von Simson (1912 – 1993), dem dieses Buch gewidmet ist, ein Nachfahre des berühmten Eduard von Simson (1810 – 1899) und aus einer preußisch-jüdischen Familie stammend, kann mit seiner Lebensgeschichte Höhen und Tiefen eines ganzen Zeitalters vor unseren Augen ertstehen lassen.
Aus Anlaß seines 25. Todestages fand im Mai 2018 an der Freien Universität Berlin eine Tagung statt, deren Vorträge dieses Buch zusammenfaßt. Sie spannen den Bogen zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik, denn Otto von Simson war sowohl ein bedeutender Kunstwissenschaftler als auch ein national und international aktiver Mann, der in festen Positionen oder aber als ein unabhängiger Bürger beratend, fordernd und gestaltend wirkte.
Sein Lebensweg führte ihn über Berlin, wo er das Arndt-Gymnasium in Dahlem besuchte, München, wo er bei Wilhelm Pinder studierte, Italien, das er 1932 länger besuchte, in die amerikanische Emigration (1939), zurück nach Europa (1951), wo er in Deutschland lehrte und in Paris als erster Vertreter der jungen Bundesrepublik bei der UNESCO tätig wurde.
 
Der Leser des Buches ist gut beraten, wenn er mit Anna Maria Voci und ihrem Aufsatz „Et in Arcadia ego!“ an Hand von Simsons Tagebuch seine Italienreise im Frühjahr 1932 mitmacht (S. 33 ff.). Er wird mit den Augen des jungen Gelehrten Kirchen und Kunstschätze in Rom, Orvieto, Florenz, Siena, Arezzo,  Perugia und Assisi sehen und an seiner Entdeckungsreise teilhaben.
1935 reise Otto von Simson erneut nach Italien und konzentrierte sich auf Ravenna (dazu der Aufsatz von Carola Jäggi: „Kunst zwischen Propaganda und Liturgie: Otto von Simsons Sacred Fortress“, S. 125 ff.). Mit scharfem Blick erkannte von Simson, wie die Haltung und das Machtbewußtsein der Herrscher die Baugestalt der Kirchen beeinflußte. Bei Kaiser Justinian darf man bedenkenlos von einer „Instrumentalisierung der Kunst für (kirchen-) politische Ziele“ (S. 127) sprechen.
1939 verließ Otto von Simson Deutschland und versuchte mit Hilfe einflußreicher Freunde in den USA Fuß zu fassen. Auf abenteuerliche Weise gelang es auch noch – inzwischen war der 2. Weltkrieg ausgebrochen -, seine Frau und seinen kleinen Sohn nachkommen zu lassen. Der Aufsatz von Karen Michels „Eine Empfehlung vom lieben Gott persönlich“, Untertitel: „Wie man als jüdisch-katholischer Kunsthistoriker einen Weg in die USA fand“ (S. 113 ff.) schildert die Bemühungen und Hilfen, die Otto von Simson bei seinen Emigrationsbestrebungen zuteil wurden (so ein Empfehlungsschreiben von Kardinal Pacelli, der schon bald Papst wurde). Dann folgten die ersten Gehversuche in den USA. Daran anschließend sollte man sich mit dem Aufsatz von Ingo Herklotz befassen (S. 175 ff.). „Chicago und das Abendland – Schritte zur Remigration“ behandelt Otto von Simsons amerikanischen Jahren mit der Zusammenarbeit emigrierter Künstler und Gelehrter, die dem „Anderen Deutschland“ eine Stimme gaben, eindringlich und umfassend. Die Haltung und Hilfe amerikanischer Professoren kommt dabei nicht zu kurz. Man kann nur staunen über dieses Zeitgemälde aus der Neuen Welt, das eine Buchform verdiente.
In den USA entfaltete Otto von Simson eine rege Lehrtätigkeit, schrieb aber auch für neugegründete Zeitschriften, die einen geistigen Aufbruch signalisierten.
 
Frucht seiner wissenschaftlichen Arbeit war vor allem das Buch „The Gothic Cathedral“, ein Standardwerk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In deutscher Sprache erschien es 2017 in 6. Auflage. Bruno Klein widmet ihm den Aufsatz „Eckstein oder Schlussstein“ (S. 143 ff.), der nicht nur Kunsthistoriker interessieren dürfte.
Das Buch „Sacred Fortress“, ebenfalls zunächst in den USA veröffentlicht, gründet sich auf die Ravenna-Studien (vgl. den Aufsatz von Carola Jäggi).
Im März 1949 kam Otto von Simson das erste Mal nach Deutschland zurück. Es zeigte sich bald, daß sich sowohl Möglichkeiten einer akademischen Lehrtätigkeit anboten als auch die Mitarbeit im Dienst des Auswärtigen Amtes. Die Außenpolitik lag damals ganz in den Händen von Bundeskanzler Adenauer, dem Otto von Simson 1953 in Chicago begegnete.
 
II
Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde ich als Vertreter der Bundesländer im Bereich Kultur in die Deutsche Unesco-Kommission Bonn (DUK) und auf die nächste UNESCO-Generalkonferenz in Paris geschickt. Damit bekam ich die Gelegenheit, Otto von Simson kennenzulernen. Er war längst nicht mehr der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der UNESCO, blieb aber im Einsatz für die DUK. Das Kulturteam bestand aus ihm, Jutta van Hasselt von der Kultusministerkonferenz, Dr. Dyroff, dem zuständigen Referenten bei der DUK, und mir.
Damals war Otto von Simson schon ein „großer alter Mann“, dem von allen Respekt und von vielen Verehrung entgegengebracht wurde. Um Berühmtheiten ranken sich schnell Anekdoten, Legenden und wahre Geschichten mit phantasievollen Ausschmückungen.
So hörte ich, Otto von Simson sei von Konrad Adenauer persönlich für die Aufgabe bei der UNESCO ausgewählt worden. „Der Alte“ habe gemeint, die für das Amt erforderliche Bildung könne er bei seinen Karriere-Beamten und Berufsdiplomaten nicht voraussetzen. So fiel seine Wahl auf den hochgebildeten jungen Kunsthistoriker, einen Emigranten, der nach Meinung der eigenen Frau die englische Sprache besser beherrschte als die deutsche Muttersprache.
 
Ich habe Otto von Simson natürlich nicht befragt, halte die Geschichte aber für absolut glaubhaft. Als wir uns beide einmal bei einer späteren Generalkonferenz darüber amüsierten, wie oft zu aufkommenden Fragen eine Weisung des AA eingeholt werden mußte, sagte er mir: „Zu meiner Zeit habe ich niemals eine Weisung eingeholt.“
So etwas verdrießt Ministerialbeamte, und ich wunderte mich nicht, als er erzählte, er habe aus einem seiner Meinung nach dringlichen Anlass zweimal vergeblich um Vortrag bei Außenminister Schröder nachgesucht und danach seinen Dienst als Ständiger Vertreter bei der UNESCO quittiert.
Otto von Simson war ein souveräner Diplomat von gewinnendem Wesen. Ich habe ihn niemals als arrogant oder abweisend erlebt, offen und zugewandt zeigte er sich stets gesprächsbereit.
Uns verbanden sehr rasch Themen aus Kunst und Kultur. Pausen oder Sitzungen, in denen die bloße Anwesenheit eines Vertreters hinter dem Schild „Allemagne“ genügte, erlaubten uns den gemeinsamen Besuch in Museen und Ausstellungen. Otto von Simson interessierte es sehr, was ich bei Bildbetrachtungen zu sagen wußte; neugierig hörte er mir zu.
Natürlich hatte ich mich mit seinem Buch „Der Blick nach Innen“ (1986) befaßt, schließlich war die Malerei des 19. Jahrhunderts mein „Steckenpferd“. Ich äußerte mich aber nur zu einzelnen Malern, weil mir die Vereinnahmung der 4 in eine Gruppe problematisch erschien. Der Buchtitel gefiel mir gar nicht, die „Deutsche Innerlichkeit“ mag ich nicht als gängigen Begriff (zu diesem Buch der klug abwägende Aufsatz von Ingeborg Becker „Der Blick nach Innen – Otto von Simson und die Malerei des 19. Jahrhunderts“, S. 241 ff.).
Ganz anders verhielt es sich mit dem großen Peter Paul Rubens, Otto von Simsons Lebensthema. Über ihn hatten wir gute, angeregte Gespräche. Zu meiner großen Freude durfte ich Otto von Simson in den Louvre begleiten, als er die Spezialerlaubnis erhielt, die gesammelten Kinderzeichnungen des Meisters zu betrachten. Wir saßen an einem langen Tisch, weit auseinander, mit Handschuhen und Gesichtsmasken, und schauten und lächelten und waren eine Stunde lang glücklich.
 
Otto von Simson arbeitete unablässig an seinem Rubens-Buch, das sein letztes Werk werden sollte und erst nach seinem Tod publiziert wurde. „Wenn es ein Torso bleibt“, sagte er, „ist das nicht schlimm, es hat seine Bedeutung.“ Und: „Mit Fußnoten plage ich mich nicht ab!“ Das sollte ihm die Kritik allerdings ankreiden (z.B. Konrad Renger in der FAZ).

Otto von Simson - © Joachim Klinger
Otto von Simsons Gesundheit schien mir geschwächt, aber welche Energie steckte in ihm und trat zutage, wenn es um Rubens ging. So berichtete er mir von seinem „Fischzug“ in England. Er wollte unbedingt ein Rubens-Gemälde sehen, das bereits in einem Container auf die Schiffsreise in die USA wartete. Man öffnete den Container für ihn!
Ein anderes Rubens-Gemälde wurde von einem unzugänglichen Besitzer gehütet. Besuch ist ausgeschlossen – hieß es. Otto von Simson bekam es zu sehen!
(Lesens- und nachdenkenswert der Aufsatz von Ingo Herklotz: „Peter Paul Rubens zwischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie, S. 79 ff.).
Wer meint, Simsons Kräfte verzehrten sich völlig in der Arbeit am Rubensbuch, der irrt sich. Da gab es sein Projekt einer Europäischen Universität in Erfurt, die unermüdliche Befassung mit der Berliner Museumslandschaft, die Guardini-Stiftung. Neben großen Vorhaben fand er immer noch die Zeit, sich in das politische Tagesgeschehen einzuschalten. Ein Beispiel: Als man plante, ein Flöz zum Kohle-Abbau bis unter das Schloss Cappenberg zu treiben, wandte sich Otto von Simson mit überzeugenden kunstgeschichtlichen Argumenten vehement dagegen und appellierte an Ministerpräsident Rau (Sonderdruck der FAZ vom 20. 02. 1988). „Einem Kulturdenkmal von europäischem Rang droht der Untergang“ schrieb er.
Otto von Simson konnte für eine Sache kämpfen, aber er war immer geneigt, sie im Gespräch zu einem guten Ende zu bringen. Er war großzügig und versöhnlich und kannte keine Barrieren zwischen Menschen.
Er hätte wie Rubens ein Friedensstifter sein können; aber die politischen Strukturen der Moderne erlaubten es nicht. Rubens war nicht nur Hofmaler, von gekrönten Häuptern geschätzt, sondern auch Diplomat, der z.B. 1630 den Frieden zwischen Spanien und England erreichte.
 
Otto von Simson 1912–1993 - Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik
Hg: Ingeborg Becker / Ingo Herklotz, Böhlau Verlag 2019
© 2018 Böhlau Verlag Köln, 286 Seiten, gebunden, mit 55 meist farbigen Abbildungen – ISBN: 978-3-412-51597-3
40,- €
Weitere Informationen: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com