Wer zieht uns an?

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Wer zieht uns an?
 
Erinnern sie sich noch daran, wie wir als Kinder angezogen wurden? Wir lagen zappelig auf einer Kommode und irgendjemand kleidete uns an. Wir trugen kleine Sternenstrümpfchen, hatten einen blauen Strampler an, und unseren Kopf bedeckte eine lustige Mütze, in der wir aussahen wie ein Fliegenpilz. Warum dauert das Glück nicht ewig? Irgendwann mußten wir uns selbst anziehen. Kinder sollten mit spätestens vier Jahren in der Lage sein, sich allein anzuziehen. Hosen mit Bündchen, nicht zu enge Shirts und Strümpfe, die beim Hochziehen aussehen wie der Dom erleichtern den Vorgang. Ich habe Freunde, die sind über sechzig Jahre und können das immer noch nicht. Haben sie mal beobachtet wie manche Männer ihre Hemdsärmel umschlagen? Auch mir nestelt immer jemand am Kragen herum und bringt ihn in Form. Ich beneide oft die Kinder vom Waldkindergarten Haxtergrund, die nur mit einer Buddelhose bekleidet allen Stürmen trotzen.
Wer in Paderborn lebt, kennt sich mit Regen aus. Aber auch wenn es hagelt und schneit, kommt man mit einer Buddelhose würdevoll durch den Tag. Die Buddelhosen sind wind- und wasserdichte Rüstungen aus 100% Polyester. Es gibt sie sogar mit integrierten Füßlingen. Die Grünen trugen sie in Gründerzeiten auf ihren Parteitagen, um auf jede Schlammschlacht vorbereitet zu sein. Treffen sich zwei Magnete. Sagt der eine: „Du, ich weiß noch gar nicht, was ich heute anziehen soll.“ In unseren glücklichen Tagen war es egal, wie wir aussahen. Manchmal kombinierten wir so mutig Kleidungsstücke, daß unsere Eltern eine Farbblindheit vermuteten. Ich habe noch die Pullover meiner Geschwister aufgetragen und ziehe immer noch gerne Klamotten an, die so wirken, als stammen sie aus der Kleiderkammer des DRK. Oft beeinflußt der Tagesablauf die Kleiderauswahl. Ich sehe oft Reiter, die wenig auf ihr Äußeres achten. Wenn ich ihr Pferd wäre, würde ich sie nicht mitnehmen. Pferde sind eitel. Ihnen geht es um den Gesamteindruck. Kontrabassisten können nachlässig gekleidet sein, weil sie sich hinter ihrem Instrument verstecken können. Natürlich gibt es Modesünden, denen wir auch in Paderborn ausgesetzt sind. Der Ostwestfale läuft gern mit Sandale und Birkenstockschuh durch die Westernstraße und trägt dazu weiße Tennissocken. Durchsichtige Leggings sind auch beliebt und beeinträchtigen die Stimmung auf Libori.
Ich klagte jetzt bei meinem Hausarzt, daß ich immer noch nicht weiß, wer mich nach meiner Darmspiegelung angekleidet hat. Man zieht sich doch vor der Darmspiegelung aus und wird betäubt und wacht danach im Ruheraum auf und ist wieder angezogen. Macht man das selber oder ist da jemand, der einem das abnimmt? Man weiß von nichts. Die Beantwortung dieser Fragen ziehen viele Gedanken nach sich. Ich kenne Ehepaare, die sich am Wochenende wieder gegenseitig anziehen. Er zieht sie an und sie zieht ihn an. Das kann ein starkes Erlebnis sein. Das ist die Anziehungskraft. Übrigens, wußten sie wie sich Eskimos anziehen? So schnell wie möglich.
 
 
 © 2022 Erwin Grosche

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