Das war ein Vorspiel nur ...

Richard Ovenden - „Bedrohte Bücher – Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens.“

von Johannes Vesper

„Das war ein Vorspiel nur. Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“
(Heinrich Heine, 1823)
 
Bedrohte Bücher
 
Von Johannes Vesper
 
Als ob Heinrich Heine es vorhergesehen hätte: Am 10. Mai 1933 verbrannten in Berlin gegenüber der Humboldt-Universität auf dem heutigen Bebel-Platz zwischen Staatsoper und Alter Bibliothek, fast also unter den Augen des Philosophen Friedrich II (Reiterstandbild Unter den Linden), Studenten „undeutsche“ Bücher. Tausende von Schaulustigen standen dabei und es dauerte nur wenige Jahre, bis in Deutschland dann Menschen nach ihrer Vergasung verbrannt worden sind. In Wien wird die Analogie zwischen Bücher- und Menschenschicksal deutlich mit dem Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Shoa, welches Rachel Whiteread im Jahre 2000 als eine quasi auf links gedrehte (Bücher an den Außenwänden) Bibliothek realisiert hat.
 
Im vorliegenden Buch geht es um das Schicksal und die nahezu 3000jährige Geschichte der Aggressionen
gegen Bücher und Bibliotheken.
 
Richard Ovenden hat es geschrieben, weil er sich darüber entrüstet, daß weltweit auch heute „die Gesellschaft sich auf die Bewahrung des Wissens durch Bibliotheken und Archive nicht verlassen kann“. Massive Angriffe gegen Wissen, gegen Bücher und Bibliotheken werden aktuell von sozialen Netzwerkern auf Facebook und Twitter, von den großen, privaten Internetkonzernen wie Google und deren Suchalgorithmen verübt. Bibliotheken mit ihrer Bewahrung von Wahrheit seien Ankerpunkte der Gesellschaft, vor allem auch der offenen Gesellschaft, schreibt der Autor. Er ist der Direktor der Bodleian-Bibliothek in Oxford, heute einer der größten Bibliotheken der Welt. Sie wurde gegründet „als Arche, um die Gelehrsamkeit vor der Sintflut zu retten“, bot aber bezüglich ihrer Gründung auch selbst schon ein Beispiel für Wissensdiebstahl. Denn ihr Kern stammt aus Portugal, war vom Earl of Sussex dem Bischof von Faro geraubt worden. Trotzdem ist Ovenden stolz darauf auf „seine“ Bibliothek, in der sich u.a. die Magna Charta von 1215 befindet, dieses für die Entwicklung von Parlament, Demokratie, von individuellen Rechten der Menschen so wichtige und frühe Dokument. Die Bibliothek in Oxford ist eine der ersten öffentlichen Bibliotheken Europas. Sie wurde 1599 gestiftet. Die älteren Universitätsbibliotheken in England waren zuvor mit Pfandleihtruhen ausgestattet, sodaß man sich gegen Hinterlegung von Büchern Geld leihen konnte. Dieses Werkzeug der Finanzwirtschaft spielt heute keine Rolle mehr. Im 18. Jahrhundert wurden im Zuge der Aufklärung Staatsbibliotheken und erst im 19. Jahrhundert öffentliche Leihbibliotheken gegründet. In England werden öffentliche Bibliotheken zwar seit 1850 grundsätzlich durch Steuern finanziert, aber erst seit 1964 sind Städte und Gemeinden per Gesetz dazu verpflichtet, wobei zwischen 2009 und 2019 773 öffentliche Bibliotheken geschlossen worden sind, schreibt dieser Anwalt des Buches oder Lobbyist des Bibliothekswesens.
 
Seine Geschichte bedrohter Bücher und Bibliotheken beginnt mit der Bibliothek Assurbanipals in Ninive, bzw. ihrer Grabungsgeschichte (ab 1842). In Ninive, 612 v, Chr. kriegerisch zerstört, wurden in Keilschrift auf Tontafeln geritzt Staatsdokumente, Staatsverträge, auch literarische Texte in riesigen Kammern aufbewahrt. Anhand kleinerer Tafeln, anscheinend Ausweisen entsprechend, konnten Boten, die Tontafeln als Briefe transportierten, identifiziert werden. Es fanden sich auf Tafeln Inhaltsangaben, Name des Autors, Kapitelangaben, also quasi Metadaten, entsprechend der Titelei moderner Bücher. Aber nicht nur Dokumente auch literarische Texte zu Religion, Medizin, Geschichte und Mythologie wurden identifiziert. Das Gilgamesch Epos, eines der ersten literarischen Werke der Welt nach der Erfindung der Schrift ab ca. 3500 v.Chr. in Mesopotamien (also vor Ägypten), wurde in der Bibliothek Assurbanipals identifiziert. Die Bibliothek in Ninive war durch Abschriften wie durch Raub aus den Nachbarländern im Gefolge von Kriegen erbeutet worden. Wissen ist Macht, glaubte der König damals schon. und „möglicherweise war die königliche Bibliothek Assurbanipals der erste Versuch, den gesamten Korpus des zur damaligen Zeit verfügbaren Wissens unter einem Dach zu versammeln“. Aus anderen Bibliotheken der Antike - die der Stadt Uruk im Südirak ist wohl die älteste (Schrifttafeln aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. - ist bekannt, daß es damals Holz- oder Steinregale gab, in den Tontafeln gelagert wurden, sowie gemauerte Bänke oder Lesestehpulte für Bibliotheksnutzer.
 
In der bedeutenden Bibliothek von Pergamon schätzte man Tontäfelchen und auch das inzwischen entwickelte Papyrus weniger, sondern vor allem das aus Leder hergestellte Pergament, dessen Bezeichnung daher stammt. Die Bibliothek von Pergamon konkurrierte ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. mit derjenigen von Alexandria, der ihrer Ausstrahlung und Größe nach wohl berühmtester Bibliothek des Altertums. Der Begriff „alexandrinisch“ steht noch heute als Synonym für umfassend und penible gesammeltes Wissen. Zerstört wurde dieses wohl größte Wissenschaftszentrum des Altertums vermutlich erstmalig durch Feuer bei den leidenschaftlichen Kriegen zwischen Caesar und Pompeius (1. Jh v.Chr.) um Kleopatra, dann zum 2. Male vom christlichen Patriarchen Theophilus 391 n. Chr. und endgültig von den muslimischen Arabern bei ihrer Ausbreitung nach Westen 642 n.Chr.. Die Araber haben angeblich die zahllosen Papyrus-Rollen der Bibliothek als Heizmaterial für ihre Hamams benötigt, heißt ist in der polemischen Legende. Papyrus wurde im Übrigen bald gar nicht mehr benötigt und durch das preiswertere Papier ersetzt, auf dem man besser schreiben konnte. 794/95 öffneten erste Papiermühlen in Bagdad ihre Türen.
 
In England bestand schon vor Heinrich VIII (s.o. Klosterraub von Faro) ein besonderes Verhältnis zu Büchern. Anne Boleyn mochte nicht nur Heinrichs Mätresse sein, sondern doch lieber verheiratete Königin. Da kam dem Schwerenöter auf dem Thron die protestantische Reformation zu Pass. Um sich von seiner ersten Frau scheiden zu können, gründete er eigens die anglikanische Kirche. Als deren Oberhaupt klappten Scheidung von Katharina von Aragon und Hochzeit mit der schönen Anne. Außerdem konnte er straf- und problemlos die katholischen Klöster ausrauben, enteignen, säkularisieren oder zerstören und ihre Bibliotheken beschlagnahmen, „für England immer eine grauenvolle Schande“.
 
Die zerstörerische Kraft des Protestantismus im Gefolge der Reformation nicht nur in England wird im Buch deutlich. Auch in den deutschen Bauernkriegen gingen die Protestanten nicht zimperlich mit Klosterbibliotheken um. Das Kloster Walkenried bei Göttingen wurde 1520 niedergebrannt, alte Bibliotheksbände als Trittsteine für morastige Wege benutzt. was Herrmann Hesse übrigens auf seinem Grundstück am Bodensee viel später auch gemacht hat. Moderne E-Books sind dazu nicht zu gebrauchen! Aber auch nicht immer ging das Recycling von Büchern so weit. Im 16. Jahrhundert wurde bedrucktes Altpapier für neue Bucheinbände benutzt und in der Universität von Kopenhagen ist ein isländisches Manuskript zu sehen, welches zur Aussteifung einer Bischofsmütze diente.
Aber zurück zur Insel: Nicht nur als Protestanten auch als Imperialisten zerstörten Engländer Bibliotheken. In ihrem letzten Krieg gegen die USA 1812-14 steckten sie in Washington u.a. die damals fast neue Library of Congress, also eigentlich das ganze Capitol, in Brand.
 

Shoa-Mahnmal Wien von Rachel Whiteread- Foto © Johannes Vesper

Katastrophal entwickelte sich in Europa die Vernichtung und Zerstörung von Büchern im Gefolge des weit verbreiteten Antisemitismus. Die Juden, ein Volk der Bücher, hatte man im 12. Jahrhundert aus England, im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben, in Venedig richtete 1516 das erste Ghetto ein und veröffentlichte daselbst einen Index verbotener Bücher. Natürlich gab es zahlreiche Pogrome vor allem auch in Deutschland, was zuletzt in der deutschen Barbarei des industriellen Völkermords der Juden gipfelte. Wie die jüdische Kultur bzw. deren Bücher in Wilna großteils vernichtet aber teilweise auch gerettet wurde, ist in dem Kapitel über die „Papierbrigade von Wilna“ bewegend beschrieben.
 
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis, 40 Seiten Anmerkung und ein umfangreiches Register ermöglichen tieferes Eindringen in das interessante Thema.
 
Alles andere als eine Enzyklopädie, bietet das Werk eine Vielzahl von hochinteressanten Aspekten zur Geschichte und Bedrohung von Bibliotheken und Büchern, von altmesopotamischen Tontäfelchen bis hin zu digitalen Speicherungsmöglichkeiten mit nahezu unüberschaubarer Datenflut. Ist Webarchivierung sicher? Dschihadisten zerstörten vor wenigen Jahren die Bibliotheken Timbuktus. Und jetzt kommt zum 3. Mal die Absage der Buchmesse in Leipzig: Leiten hierzulande so die Ökonomen der Großverlage das Ende des Buches ein? Die Geschichte geht weiter. Es bleiben Fragen über Fragen.
 
Richard Ovenden - Bedrohte Bücher – Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens.
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. (Titel der Originalausgabe: Burning the Books. A History of Knowledge under Attack, erstmals erschienen 2020 bei John Murray. © Richard Ovenden)
© 2021 Suhrkamp Verlag Berlin, 416 Seiten, gebunden, 16 Bilder (s/w) - ISBN 978-3-518-43007-1
28,- €
 
Weitere Informationen: www.suhrkamp.de