"Chess" in Essen

Eine Hymne

von Peter Bilsing
CHESS
Musical-Ereignis am Essener Aalto
 
Premiere am 13. September 2008

 

Musikalische Leitung: Heribert Feckler

Besetzung (Zweitbesetzung in alphabethischer Reihenfolge):Florence: Ann-Christin Elverum / Femke Soetenga  -  Svetlana: Claudia Hauf  -  Reporterin: Marie-Helen Joël  -  Frederick: Kai Hüsgen / Henrik Wager  -  Anatoly: Serkan Kaya / Kristian Vetter  -  Arbiter: Romeo Salazar  -  Molokov: Michael Haag / Thomas Sehrbrock  -  Walther:  Günter Kiefer

 

U oder E  -  Bödsinn!

Der Volksmund unterscheidet immer noch zwischen U- und E-Musik. Diese Einteilung ist natürlich Blödsinn, weil sich die Grenzen Gott-sei-dank endlich aufgelöst haben - denn Unterhaltungsmusik kann genauso ernst daherkommen und gemeint sein wie E-Musik, die man früher gemeinhin mit Klassik gleichsetzte. Dabei kann Klassik (E-Musik) genauso unterhaltsam sein wie langweilig und öd. Der Begriff der Pop-Musik hilft hier kaum weiter, seitdem Puccinis „Nessun dorma“ nicht zum ersten Mal die Hitparaden stürmt. Der Kritiker schließt sich hier den Worten Kurt Weills an, nach denen es nur gute oder schlechte Musik gibt. Dabei zählen die Hits der berühmten Band ABBA zur ersteren Kategorie.
 
ABBA

Daß Erfolg, man kann es eigentlich im Zeitalter der Supernasen-Talentshows kaum glauben, auch mit Qualität und fundierter Ausbildung verbunden sein kann, bewiesen und beweisen weiterhin die

Foto: Aaalto Musiktheater
Ton-Konserven eben jener vier aus Schweden, die mittlerweile neben den Beatles zur kommerziell erfolgreichsten Pop-Band der Welt gezählt werden müssen: Agnetha Fältskog, Benny Andersson, Björn Ulvaeus, Anni-Frid Lyngstad. ABBA. Von 1972 – 80 erlebten sie eine Erfolgswelle ohnegleichen. Und das ABBA-Revival der letzten Jahre zeigt, daß es sich um Musik von hochrangiger, scheinbar ewig währender Qualität handelte. Evergreens, die durchaus auch Opernfreunde genießen. Nicht ohne Grund, denn beide Abba-Damen sind ausgebildete Opernsängerinnen, deren Stimmumfang locker und beinahe mühelos drei Oktaven (ohne Studiotechnik!) abdecken konnte. Darüber hinaus zählt das Komponisten-Duo Andersson/Ulvaeus nach Paul McCartney sicherlich zu den Schreibern der schönsten Songs.
 
Substanz und Kompetenz

Nun zum Musical CHESS: Nachdem der weibliche Teil ABBAs sich 1980 endgültig von seinen kreativen männlichen Partnern getrennt hatte, suchten diese neue musikalische Betätigungsfelder – Stichwort: Musical. Lange bevor sie mit MAMMA MIA (1999), einer recht einfallslosen Kompilation alter Hits, eingebaut in eine recht simple Rahmenhandlung, den ganz großen Musicalerfolg feiern konnten, hatten sie schon im Jahr 1984 die famosen Noten für ein Musical zu Papier gebracht, das dem großen Autor und Librettisten Tim Rice schon lange auf den Nägeln brannte: CHESS. Die Geschichte zweier Schachweltmeister in Zeiten des Kalten Krieges, historisch den allseits bekannten Vorbildern Fischer & Spasski nachgezeichnet und ummantelt mit einer hübschen Liebesgeschichte, leider ohne Happy End. Vielleicht waren es eben jenes „fehlende Happy End“ und die allzu anspruchsvoll und realistisch am Schach klebende Geschichte, daß dieses absolut superbe Musical nicht die erwartete internationale Popularität erreichte. Schade, denn CHESS zählt zum besten und gelungensten, auch musikalisch anspruchsvollsten Konstrukt, das in den letzten 30 Jahren produziert wurde. Wir hören gekonnte Anklänge an Wagner, Brahms, Stravinsky – gepaart mit Heavy Metall à la Uriah Heep und Deep Purple. Sakrale Gesänge alternieren mit toller Pop-Musik (One Night in Bangkok, I know him so well…) und immer wieder kurze Balladen im Dylan- oder Donovan-Stil. Der Oldie-Fan ist richtig traurig, daß die Geschichte nach rund 100 Minuten schon zu Ende ist. Diese herrliche Musik könnte man stundenlang weiterhören.

Essen zeigt Flagge


Foto: Aaalto Musiktheater
Den wenigen mutigen deutschen Aufführungsorten (Baden-Baden, Kaiserslautern, Kassel, Ettlingen und Nordhausen) gesellen sich dieses Jahr Essen und Dresden hinzu. Zwei renommierte Musikpaläste, von denen für die Dresdener Staatsoperette eher die Tradition (Deutschlands erstes Haus in der Pflege der Gattungen Operette & Musical!) und für das Aalto Theater eher die akustische Perfektion und modernste Theater-Technik sprechen. Vorgestern war Premiere in Essen.
 
Endlich, endlich, endlich… ist es gelungen, die phantastische Technik des Essener Musentempels adäquat einzusetzen und in aller Perfektion und allem Zauber glänzen zu lassen. (persönliche  Anmerkung: Ein derartiges Lob für den Opernbereich steht leider seit gut 20 Jahren noch aus, läßt aber den Schuhkarton- und Einheitsbühnenbild-geplagten Kritiker noch hoffen!). Geradezu wie auf der Zauberbühne in Las Vegas bei Siegfried und Roy bewegen sich Gegenstände, Monumente, Ebenen und Spielflächen – es rotiert die Drehbühne, Ober- und Untermaschinerie feiern wahre Orgien (Verantwortlich: Dirk Becker). Ja, wann hat man Ähnliches zuletzt hier erleben dürfen? Hinzu kommen professionell und variabel eingesetzte Projektionsflächen mit erkennbar guten und überzeugenden Videobildern (Omas Wackelkamera – Orlando läßt grüßen - hat hoffentlich endlich ausgedient).
Eine fabelhafte „Lichtregie“ (Ltg. Jürgen Nase) verdient ihren Namen zurecht. Konzepte die stimmen und stimmig sind; alles ist bis auf feinste Nuancen sauber ausgeleuchtet und sogar der alte „Verfolger“ wird perfekt integriert – geradezu ein Lehrbuch für anstehende Berufsanfänger. Warum ist das nur nicht immer so? Der Opernfreund braviert allen weiteren Beteiligten.
Die phantasiereichen Kostüme von Martina Feldmann widerspiegeln, integrieren und konterkarieren genial das jeweilige Szenario – sei es in der Farbigkeit und dem Kostüm traditioneller Bergdörfler (Meran), dem charmantem Orientalismus (Bangkok) oder integrieren sich sinnfällig ins individuelle Bild der schwarz-weißen Schach-Monochromie. Wunderbar!
 
Der gute Ton

Doch Kern- und Angelpunkt einer jeden Microport-Produktion, ist die Tontechnik. War sie, zumindest

Foto: Aaalto Musiktheater
in der letztjährigen JESUS-CHRIST-Premiere und dem FEUERWERK noch grauenhaft (ich sprach damals vom James-Last-Sound), so ist mittlerweile ein Quantensprung gelungen. Endlich stimmt die Lautstärke des Basses, die Differenzierung der klassischen und elektronischen Instrumente funktioniert bestens, und das Schlagzeug ist vernünftig ausgesteuert. Die Stimmen klingen natürlich. So muß es sein!
Das Team am Mischpult arbeitete am Samstag mit der Präzision einer Studioaufzeichnung. Hier hat zum ersten Mal das Prädikat „exzellent“ seine Berechtigung. Fünf Sterne! Bravi auch für alle am Ton beteiligten fleißigen Seelen. Solche „High Fidelity“ muß Zukunftsstandard bleiben – egal ob Operette oder Rockoper. Und laßt Euch nicht an der Lautstärke herummanipulieren, bitte! Rockmusik ist laut und muß auch so wiedergegeben werden! Egal welcher Pflegefall sich da in der Pause beschwert. Damit lebt und stirbt jede Live-Aufführung. Mehr als großes Lob von dieser Stelle an die Leiterin der Tonabteilung Sabine Bormann und den akkuraten unerschütterlichen Männern am Pult, Helmut Baar und Axel Vent.
 
Atemberaubend


Foto: Aaalto Musiktheater
Wenn Choreografie und Inszenierung in den Händen des bewährten Erfolgsduos James de Groot und Paul Kribbe liegen, dann ist dem Kritiker um die Qualität einer Aufführung niemals bange. Doch was beide mit dieser Produktion ablieferten, ist Oscarreif und gehört um Besten, was es in der Musicalszene zur Zeit zu sehen gibt. Alles ist grandios erarbeitet und zeigt die ungeheure Qualität des Stücks in jeder Sekunde. Da bleibt kaum ein Takt zum Atemholen und nur wenig Zeit zum Zwischenapplaus.
 
Besser als Heribert Feckler kann man kaum die Musiker, Sänger und gelegentlichen Klangmassen motivieren. Der kopfhörerbewehrte Dirigent ist für mich der „Mann des Abends“ gewesen. Zusammen mit dem Dream-Team vom Sound läßt er die Musik in höchster Klangreinheit erblühen; egal ob edler Blechbläserklang, schneidende Gitarrenriffs, fabelhaftes Schlagzeug (!), raumgreifende Orgelklänge bzw. samtiger Kammersound – alles tadellos. Die tolle Truppe der 16 Musiker des sogenannten „United Rock Orchester“ hätte es mehr als verdient, im Programmheft einzeln erwähnt zu werden.
 
Staraufgebot

Last but not least hatte man für die Gesangs-Partien die „Crème de la Crème“ der deutschen Musicalszene eingeflogen. Überragend präsentierte sich Femke Soetenga (Florence) – eine Stimme, die mich frappierend ans Abba-Original von Frida Lyngstad erinnerte. Sie war der absolut umjubelte Star des Abends, als wäre die Musik direkt für sie geschrieben. Sicherlich eine Idealbesetzung, denn sonst hätte man sie kaum nach den Riesenerfolgen mit derselben Partie in Nordhausen und Dresden nun schon zum dritten Mal in dieser Rolle erleben dürfen. Brava!
 
Der sympathische junge Serkan Kaya (Anatoly) ist nach „Miami Nights“, „Elisabeth“, „Footloose“ und

Foto: Aaalto Musiktheaterë
„We will rock you“ auf dem Weg nach ganz oben. Claudia Dilay-Hauf (Anatolys Frau) – („Showboat“, „Cabaret“, „JCS“) – rührte uns im Schlußgesang wirklich zu Tränen. Henrik Wagner als Trumper  („JCS“, „Poe“, „Gaudi“, „Jekyll & Hide“) – überzeugte durch vielseitige Rollenauslegung. Romeo Salazars gab einen prägnanten Schiedsrichter, gesanglich und darstellerisch angesiedelt irgendwo zwischen Sammy Davis jr. und Frank Sinatra (die Vielzahl seiner Musicalrollen würde diese Seite sprengen). Mit Michael Haag (Molokov), Günther Kiefer (Walther) und Marie-Helen Joel (Jane) integrierten sich Opern-Ensemble-Mitglieder perfekt und authentisch ins Musicalszenario.
 
Schnell zuschlagen heißt es für den Musical-Fan, denn die Karten für die Folgevorstellungen werden im Handumdrehen ausverkauft sein. 5 Sterne! Eine tolle Aufführung.
 
Informationen unter: www.theater-essen.de


Die Rezension ist eine Übernahme mit freundlicher Erlaubnis des "Opernfreund"