Der Mond - Die Sonne

Uralte Fragen nach dem Genus der Wörter und dessen Bedeutung

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Der Mond - Die Sonne
 
Uralte Fragen nach dem Genus der Wörter
und dessen Bedeutung
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Die Frage nach den Gründen für die sprachliche Zuweisung der beiden Himmelskörper  - einmal als maskulin und einmal als feminin -  ist uralte und wird immer wieder neu gestellt.
 
Wer als Engländer, Däne oder Pole die deutsche Sprache erlernen will, tut sich bekanntlich in mancher Hinsicht schwerer als erwartet. Eine heikle Klippe ist unter anderen das Erlernen der Genera der Substantive. Heißt es Der, Die oder Das? Ein in den Zwanziger Jahren im Ruhrgebiet kursierender Witz mag das verdeutlichen. Ein polnischer Gastarbeiter versucht einem Neuankömmling das Problem zu erklären, indem er zeigt, wie wichtig für das rechte Verständnis die Genuszuweisung der verschiedenen Substantive im Deutschen ist:
 
            Sagst Du „der Regent“ - sitzt auf Thron;
            sagst Du „Die Rigent“ - steht vor Musik;
            sagst Du „das regent“ - fällt Regen.
 
Das Erlernen der den deutschen Substantiven vorangestellten Artikel und deren Funktion ist deshalb so schwierig, weil diese in den als Beispiel genannten Sprachen unterschiedslos gebraucht werden: englisch „the“, dänisch „det“, polnisch „ten“. Das Dänische zum Beispiel kennt gegenwärtig nur zwei grammatikalische Geschlechter: Utrum (männlich und weiblich) und Neutrum (sächlich). Die Bezeichnung der Himmelskörper war früher auf kein bestimmtes Genus festgelegt, sondern sie wurde einem weiteren Genus (Kommune) zugeordnet. Im Englischen kann „the sun“ sowohl männlich wie weiblich aufgefaßt werden (in Shakespeares „Macbeth“: „ the sun ginns his  reflection“; im Titel eines Erfolgsromans von Rupi Kaur „The sun and her flowers“ von 2017, wobei allerdings zu fragen ist, ob die Wendung erst neuerlich wegen gender equality so formuliert wurde). Welchem Genus die Nomen angehören, ist nicht an der Form der Substantive oder an den ihnen zugeordneten Artikeln erkennbar, sondern durch den Sprachgebrauch. Auch in den hier ausdrücklich genannten und in anderen Sprachen ist die Genuszugehörigkeit also meist nur aus dem Kontext zu erschließen.
 
Umgekehrt stutzt ein deutschsprachig Aufgewachsener, wenn er zum ersten Mal erfährt, daß sich auch in Sprachen mit differenzierenden Artikeln unterschiedliche Kennzeichnungen finden. Der in italienischer Sprache verfaßte „Sonnengesang“ des Heiligen Franz von Assisi ist die früheste Poesie in einer europäischen Landessprache. Er wurde schon früh in viele Sprachen übersetzt. „Du, Herr, seist gelobt durch Bruder Sonne und durch Schwester Mond“ (Laudato sie [...] lo frate sole […] per sora luna). Wer geglaubt hatte, es sei doch wohl ganz selbstverständlich, daß es immer und überall nur „der Mond“ und „die Sonne“ heiße, wird hier eines anderen belehrt: Im Italienischen wird die Sonne (il sole) wie im Lateinischen als maskulin, der Mond (la luna) als feminin gekennzeichnet.
Mit diesem Befund ist die Frage nach einer sprachlichen Besonderheit der westgermanischen Sprachen Europas angestoßen, die schon seit dem Urgermanischen und bis heute den Mond als masculinum, die Sonne als femininum auffassen. Beispiele aus anderen europäischen - vor allem romanischen - Sprachen können das verdeutlichen.
 
            deutsch                  der Mond (masc.)           die Sonne (femin.)
            altgriechisch           το φεγγάρι (neutr.)          ο Ηέλιος (masc.)
            lateinisch                luna (femin.)                   sol (masc.)
            italienisch               luna (femin.)                   sole (masc.)
            französisch             lune (femin.)                   soleil (masc.)
 
Die meisten slawischen Sprachen haben für den Mond feminine, für die Sonne masculine Bezeichnungen.
 
Die Gründe für diese Genuszuordnungen sind nicht schlüssig auszumachen und schon gar nicht nachzuweisen. Die so auffällig divergierenden sprachlichen Charakterisierungen der Himmelskörper erlaubt ausnahmsweise eine Spekulation. Sprachgemeinschaften kennzeichnen, mindestens seit Beginn der schriftlichen Überlieferungen, in der Regel, das was ihnen besonders wichtig ist, mit masculin besetzten Wörtern. Daraus wäre zu schließen: Für die westgermanischen Sprecher war der Mond wichtiger und bedeutsamer als die Sonne. Wie das? Sprachen gewinnen im Lauf ihrer langen Geschichte an bestimmten Punkten Festigkeit, das heißt bleibende Prägung. In welcher vorgeschichtlichen Epoche mag der Mond die Sonne an Bedeutsamkeit übertroffen haben? Es könnte die Zeit der Viehzüchter und -hüter gewesen sein: Sie mußten vor allem des Nachts ihre (Schaf)Herden besonders gut bewachen, um sie etwa vor Wölfen zu schützen. Das war in mondhellen Nächten kein großes Problem, wohl aber in der Phase des Dunkelmondes. Der Viehzüchter oder der Hirt mußten sich bei ihren immer notwendigen Nachtwachen in nächtlicher Dunkelheit als besonders wachsam erweisen, nicht aber wenn es mondhell war. Nimmt man an, daß die Hüter tagsüber den in den Nächten entbehrten Schlaf nachholten, versteht man, daß der Stand der Sonne sie wenig interessierte. Der Mond aber war ein wichtiger Beistand bei der Überlebenshilfe für die Herden; seine wechselnden Phasen mußten von den Hütern genau beobachtet werden, um angemessen auf Gefahren reagieren zu können.
 
Ganz anders die romanischen Sprachen, die offenbar in einer Zeit fest wurden, in denen Ackerbau wichtiger als Viehzucht war. Der Bauer muß genauestens die Sonne in ihrem verschiedenen Erscheinen beobachten, und zwar in Zeiten der Aussaat, des Wachstums und der Ernte. Bei Mißachtung dieses Himmelskörpers kann es zu eklatanten und lebensgefährlichen Folgen kommen. Noch nach Jahrhunderten sind von dieser unterschiedlichen Wertung der Himmelskörper durch verschiedene Kulturen Spuren erkennbar: Die romanischen Völker, vor allem die Römer, verstanden sich in erster Linie als Bauern, die übrigen eher als Hirten. Vielleicht ist es kein Zufall, daß besonders die Weihnachtsverkündigung der Engel an die „Hirten auf dem Felde, die des Nachts ihre Herde hüteten“ (Evangelium Lukas 2.8) im deutschsprachigen Raum zu allen Zeiten immer wieder in der Malerei, der Musik und besonders in der Dichtung eine große Rolle spielte und geradezu mit Liebe ausgemalt wurde. Der Italiener Franz von Assisi (im „Sonnengesang“) und die ihm folgenden Künstler schenkten dagegen erkennbar wie selbstverständlich Bruder Sonne ihre größte Aufmerksamkeit und sangen deren Lob entschieden häufiger als das der anderen Gestirne. Das war schon bei den Alten Griechen so: Die Bezeichnung der Sonne als Helios wurde auf einen gleichnamigen Gott übertragen, und ganz ähnlich verfuhren auch die Alten Römer, als sie ihre Bezeichnung des Bruders Sonne auf den Gott Sol zurückführten. Die Genuszuweisungen im damals bekannten Sternensystem zeigt Ähnlichkeiten mit diesen Vorstellungen: Die als besonders und wichtig erscheinenden Planeten wurden nach männlichen Gottheiten benannt: Uranus, Saturn, Jupiter, Neptun, Merkur; die Liebesgöttin Venus ist eine Ausnahme. Also entspricht die Bezeichnung der Planeten bis heute dem Genus der Götter, deren Namen sie tragen: „der Uranus“, „der Jupiter“, aber „die Venus“.
 
Das unerschöpfliche und facettenreiche Thema sei damit abgebrochen, aber abschließend noch ein Blick über die europäischen Sprachgrenzen hinaus getan. In persischsprachigen Ländern ist es eine alte und immer noch gepflegte Gewohnheit, ein Geschwisterpaar „Farshid“ und „Mahshid“ zu nennen. Der Name des Jungen ist einer der ältesten der Antike überhaupt und bedeutet „Sonnengleich“, „Sonnenglanz“, der des Mädchens „Mondgleich“ oder  „Mondschein“. Nach der Sonne werden die masculinen Kinder, die Jungen, benannt, nach dem Mond die femininen, die Mädchen. Wie schön, daß die Herkunft so alter Bezeichnungen weltumspannend gleich ist: auch ein Weg zur Völkerverständigung im wahrsten Sinn des Wortes.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021