Ein Bett von Blumen

Walther von der Vogelweide besingt die Sommerliebe

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Ein Bett von Blumen
 
Walther von der Vogelweide besingt die Sommerliebe
 
Von Heinz Rölleke
 
In seinem im Mittelalter sehr weit verbreiteten Buch „Der Renner“ formulierte Hugo von Trimberg um 1300 die bekannt gebliebenen Verse
 
                        Herr Walther von der Vogelweide:
                        Swer des vergêze, der tête mir leide.
                       
                        (Herr Walther von der Vogelweide,
                        jeder, der seiner vergäße, der täte mir leid)
 
Die Worte hatten durch die Jahrhunderte ihre Richtigkeit: Walther ist eine der wenigen Künstler des Mittelalters, deren Andenken so gut wie ununterbrochen bis in unsere Zeit reicht. Nach der Streichung der mittelalterlichen Literatur vom Obersekunda-Lehrplan der Gymnasien und seit der Ausdünnung der Mediävistik an den Universitäten sieht es allerdings nicht mehr nach einer allseitigen Bekanntheit des größten mittelhochdeutschen Lyrikers Walther (ca. 1170 bis ca. 1230) aus. Auch um diesem Vergessen ein wenig entgegenzusteuern, sei eines der berühmtesten seiner Lieder ins Gedächtnis gerufen, ein perfektes Zeugnis der hohen Minnesangskunst mit seinerzeit neuen, originellen Eigenwilligkeiten.
 
                        Under der linden
                        an der heide,
                        dâ unser zweier bette was,
                        Dâ muget ir vinden
                        schône beide
                        gebrochen bluomen unde gras.
                        Vor dem wald in einem tal
                        tandaradei,
                        schône sanc diu nahtigal.
 
In der Eingangs- wie in allen Folgestrophen spricht ausnahmslos ein Lyrisches Ich, so daß es sich um ein Rollenlied handelt, das in Anführungszeichen stehen könnte, denn der Dichter überläßt das Wort völlig einem Mädchen, wie sich im ersten Wort der zweiten Strophe markant zeigt.
 
                        Ich kam gegangen
                        zuo der ouwe:
                        dô was mîn friedel komen ê.
                        Dâ wart ich empfangen,
                        hêre frouwe,
                        daz ich bin sælic iemer mê.
                        Kusste er mich? Wol tûsendstunt:
                        tandaradei,
                        seht wie rôt mir ist der munt.
 
Ansprechpartner der Erzählung des Mädchens sind vielleicht eine andere Frau und jedenfalls ein zuhörendes Publikum, also auch wir als Leser oder Hörer. Besonders intensiv wird der Ort der Liebesbegegnung im Freien vom ersten Vers des Gedichtes an imaginiert und dann besonders in der dritten Strophe, wo das freudige Geständnis überrascht, jeder Hörer selbst könne mit Wohlgefallen das nun verlassene Lager der Liebe betrachten.
 
                        Dô het er gemachet
                        alsô rîche
                        von bluomen eine bettestat.
                        Des wirt noch gelachet
                        inneclîche,
                        kumt iemen an daz selbe pfat.
                        Bî den rôsen er wol mac,
                        tandaradei,
                        merken wâ mirz houbet lac.
 
In der Schlußstrophe wird ein verschämter Rückzieher angedeutet: Von all den beseligenden Ereignissen sollte eigentlich niemand etwas erfahren als die beiden Protagonisten und ein zierlicher Vogel, der aber wohl nichts weiter ausplaudern wird.
 
                        Daz er bî mir læge,
                        wessez iemen
                        (nu enwelle got!), sô schamt ich mich,
                        Wes er mit mir pflege,
                        niemer niemen
                        bevinde daz wande er und ich -
                        Und ein kleinez vogellîn,
                        tandaradei,
                        daz mac wol getriuwe sîn.
 
Ludwig Uhland schrieb 1822 die erste umfassende Biographie Walthers. Mangels authentischer Zeugnisse zu seinem Leben stützte er sich auf die Dichtungen und wertete sie teilweise im Goethe'schen Sinn als Erlebnis- oder Bekenntnislyrik, das heißt, viele Verse Walthers wurden als Selbstzeugnisse eigenen Erlebens angesehen. Solche biographisch-individuelle Auswertungen verbieten sich indes, wenn man den topischen Charakter vieler Bilder und die Traditionen, in denen Walthers Lyrik steht, überschaut.
 
Einige Nachweise seien hier, dem Aufbau des Gedichtes folgend, zum stimmigeren Verständnis dieses bis heute populären unter anderen von Edward Grieg, Engelbert Humperdinck, Hans Pfitzner und Eduard Künneke vertonten Liedes angeführt.
 
Das Erlebnis, von dem das Mädchen berichtet, ist an einem seit der Antike in der Literatur des europäischen Mittelalters topischen locus amoenus lokalisiert, ein immer gleicher Topos (Gemeinplatz) mit invarianten Requisiten, wie sie ungezählte Male begegnen, etwa im althochdeutschen „Alexanderlied“ des Pfaffen Lamprecht (vor 1150): 'blûmen', belaubte 'boume', fließende 'brunnen' und singende 'fügele'. Allgemein die Linde, (häufig) ein Quell, ein singender Vogel, gebrochene Blumen in einer grasbewachsenen, kaum einsehbaren Mulde („in einem tal“), und zwar „an der heide“ oder an „der ouwe“ (zweite Strophe); das ist der Streifen unbebauten Landes zwischen Wald und Feld. Der Ort der Liebe im Freien oder auch der Freien Liebe ist genau zwischen Natur und Kultur plaziert, wobei man die mit dem dummen Ausdruck als 'Niedere Minne'  bezeichnete geheime Liebesbegegnung zwischen Menschen ungleichen Standes als 'natürlich', die sogenannte Hohe Minne (ein Liebesspiel ohne Erfüllung nach höfischen Regeln) als 'kultiviert' wertete. Walther ist der erste bedeutende Dichter, der die in Formeln erstarrte Besingung der Hohen Minne durchbrach, so daß ihm alsbald Neidhart und andere moderne Dichter darin folgten. Die genannten Requisiten waren den meisten Hörern vertraut, so daß man bei solchem Gedichtanfang mit Recht ein Liebesgedicht erwartete. Heinrich Heine hat die Linde auch wegen ihrer herzförmigen Blätter endgültig als Baum der Liebenden definiert (Wilhelm Grimm postierte, realistisch völlig unpassend, eine Linde im dichten Wald, damit die erste Begegnung zwischen Prinzessin und Froschkönig an einem locus amoenus statthaben konnte). Daß die Nachtigall hier offenbar schon am hellen Tage ihre Liebesklagen singt (lautmalerisch wird der Nachtigallenschlag als „tandaradei“ hörbar gemacht), dürfte keinen mittelalterlichen Hörer befremdet haben, geht es doch nicht um die realistische Beschreibung eines individuellen Naturerlebnisses, sondern um die Versammlung der topischen Requisiten. Die direkte Bezeichnung des Blumenlagers als „bette“ kennzeichnet unmißverständlich den Charakter des Rendezvous – es ist ein handfestes Beilager fernab von aller Ziererei der höfischen Hohen Minne (vgl. auch in der dritten Strophe die Position des Mädchens „wâ mirz houbet lac“). Als das Mädchen sich am verabredeten Platz einfindet, ist ihr „vriedel“ schon dort – mit dieser Vokabel, die um 1200 schon völlig aus der Mode war, wird deutlich, daß das einfache, gewiss unbelesene Mädchen die modernen Bezeichnungen für den Liebhaber noch nicht kannte. Meisterhaft, wie Walther hier die sympathische Naivität des einfachen Mädchens mit einem einzigen Begriff verdeutlicht! Andererseits zeigt sich deutlich, wie das Rollengedicht dem Mädchen Empfindungen aus der Sicht eines sich überlegen fühlenden Mannes in den Mund legt: Sie fühlt sich nach der Liebesbegegnung einfach nur „sælic“ und empfindet seine Küsse im Nachhinein in holder Übertreibung als tausendfach („tûsendstunt“) - zum Beweis zeigt sie in aller Unschuld freimütig ihren röter gewordenen Mund vor. Rätselhaft ist seit je der Vers „hêre frouwe“. Allgemein diskutiert man drei Erklärungen: Es könnte gemeint sein: da wurde ich einfaches Mädchen von meinem (offenbar adeligen) „vriedel“  wie eine vornehme Dame von Stand empfangen; oder: da wurde ich mit der Anrede „Gnädigste Frau“ empfangen; oder: im Überschwang meiner Gefühle rufe ich die Heilige Jungfrau Maria als höchste Instanz an: Da hat er mich empfangen - Heilige Jungfrau Maria! - , daß das Gefühl meiner Seligkeit noch immer stärker wird. Zu diskutieren wäre eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Es handelt sich um die Anrede einer Zofe an ihre adelige Herrin, der sie bei ihren abendlichen Dienstgeschäften von den Erlebnissen ihres Tages berichtet, wie das unter Frauen zuweilen üblich sein soll. Die Dame von Adel würde dann von dem Mädchen in aller unschuldigen Naivität auf den Unterschied von 'Hoher und Niederer Minne' hingewiesen. Ob sie ihre Zofe deswegen tadelt oder beneidet, steht dahin, von ihrer Reaktion ist keine Rede. Das Mädchen aber malt weiter das Wonnelager aus, dessen gebrochene Blumen eindeutig auf die Geschehnisse im Sinn von Goethes „Heideröslein“ anspielen: Der Liebhaber hatte auf der Heide ein sanftes Blumenlager („schone gebrochen“) bereitet, auf dem diese gebrochenen Rosen später jedem Betrachter Zeugnis vom Höhepunkt der Liebesbegegnung geben. In der mittelalterlicher Literatur ist das schonende wie das gewaltsame Rosenbrechen Zeichen für verlorene Unschuld („und der wilde Knabe brach 's Röslein auf der Heiden“).
 
In der Schlußstrophe besinnt sich das enthusiasmierte Mädchen auf die gesellschaftlichen Anstandsregeln, die unbedingte Verschwiegenheit fordern, wenn es dennschon zu einer eigentlich unstatthaften Liebesbeziehung gekommen ist. Zwar hat sie ihrer Herrin, von ihren Erlebnissen und Gefühlen berauscht, das Abenteuer guten Gewissens erzählt, sonst sollte aber um Gottes Willen absolut niemand nie etwas davon erfahren. Die kleine Nachtigall, die Zeugin war, wird wohl im Bündnis mit den Liebenden sein und den Schnabel halten.
 
Zwar klingt in der Selbstaussage des Mädchens eine leicht ironische Distanz des Dichters an, aber der seinerzeit neuartige Preis der Wandlung hochstilisierter Minne zu herzlich-handfester Liebe dominiert doch dieses zeitlos wunderbare Gedicht.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022