Beim Singen entschlackt die Seele
Der Chor der Konzertgesellschaft Wuppertal nach Corona
Von Johannes Vesper
„MMM-AAA“, auf- und abfallend. Schneller, präziser, bitte!! Chorleiter Georg Leisse malt, am Flügel stehend, große Zeichen in die Luft. Gestoßen, punktiert, legato werden lockernde Koloraturphrasen chromatisch ab und auf geschmettert, bis zuletzt die hohen Frauenstimmen strahlen und die Herren in der Tiefe schweigen. Nach 15 Minuten ist die Stimmbildung vorbei und die Stimmen geölt. Heute versucht der Chor erstmalig das Stabat mater von Josef Haydn. „Takt 147 bitte“ ruft der Dirigent. „Bitte deutlich sprechen beim Singen!“ Nach einer guten Stunde endet der erste Teil der Probe. Sofort brechen Pausengespräche und Plaudereien aus ohne Störung durch den Chorleiter.
Warum trifft man sich Jeden Mittwoch zur Probe? Das herrliche Verdi-Requiem ist natürlich der Traum, gemeinsam den Himmel aufreißen mit dem Sinfonieorchester, welches für drei große Chorkonzerte pro Spielzeit zur Verfügung steht. Bei Dvoraks Requiem habe sich „die Herrlichkeit des Herrn bis in den letzten Stadthallenwinkel ausgebreitet“, war in der Presse zu lesen. Dieses Konzert, unter der Leitung von Gregor Meyer (Gewandhauschor Leipzig) stellte den Aufbruch des Chores nach Corona dar. Es folgten große Aufführungen unter GMD Patrick Hahn (9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven) in der Historischen Stadthalle Wuppertal sowie in der Kölner Philharmonie. Und tatsächlich kamen etliche neue Mitglieder dazu. 120 aktive Sängerinnen und Sänger werden angestrebt.
Seit 200 Jahren ist dieser Chor eine kulturell musikalische Säule im Tal
Als im 3. Jahrtausend vor Chr. die alten Ägypter schon in Chören sagen, sangen im Tal der Wupper vermutlich nur Meisen und Finken. Erst 1811 wurde der Elberfelder Gesangverein, und 1817 der Barmer Singverein gegründet, die sich 1968 zum aktuellen Konzertchor der Konzertgesellschaft Wuppertal zusammenschlossen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wollten sich die Bürger nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch kulturell von adeliger und kirchlicher Hochkultur emanzipieren. In Elberfeld führte man damals zeitgenössische Musik auf, nämlich die „Die Jahreszeiten“ von Josef Haydn und die Musik im Tal entwickelte sich stürmisch. 1825 wurde die alte Concordia in Barmen als Konzertsaal eingeweiht. 1861 gab es neue Konzertsäle in Barmen (Concordia) und Elberfeld (Casino). 1862 wurde das Sinfonieorchester gegründet. Es entstanden die Opernhäuser in Elberfeld (1862) und Barmen (1874) und am 06.07.1900 wurde die prächtige Stadthalle auf dem Johannisberg eröffnet mit insgesamt 740 Mitwirkenden und dem 36jährigen Richard Strauß als Gastdirigenten. Wegen Überfüllung mußte 1929 das Abschlußkonzert des Rheinischen Sängerbundfestes in den Schlachtsaal des Barmer Schlachthofes verlegt werden. Während der Hungerzeit 1945/46 unmittelbar nach Kriegsende, wurde die Bachsche Johannes-Passion fünfmal hintereinander aufgeführt. 1953 wurde Carl Orffs „I Trionfi“ uraufgeführt. Und 1955 Paul Hindemiths Chorwerk „Ite, angeli veloces“.
1963 brach für die beiden städtischen Chöre mit Hanns-Martin Schneidt (1928-2018) ein goldenes Zeitalter an. Ihm lag als ehemaligem Thomaner die Chorarbeit besonders am Herzen, was auf seine Nachfolger, zuletzt Julia Jones (GMD 1916-2021) nicht zutraf. Begründete Hoffnung ruht jetzt auf dem neuen GMD Patrick Hahn.
Chorarbeit
Der Leiter des Chores, Georg Leisse, hat Kirchenmusik studiert und fünf Jahre an der Bonner Oper als Korrepetitor gearbeitet, ist also musikalisch „mit allen Wassern gewaschen.“ Seit Jahren fasziniert ihn, wie unter den Proben die Singenden von der Musik ergriffen werden. Das Ziel der Probenarbeit besteht in homogenem Chorklang, exakter Einstudierung auch von Dynamik und Tempi, weil das Orchester unerbittlich spielt und geringe Verzögerungen bald kritisch werden können. Die Verständigung mit dem in der Regel von außen kommendem Dirigenten des Konzertes erfolgt im Rahmen einer Klavierprobe vor Haupt- und Generalprobe mit dem Orchester.
„Unser Chorleiter verseht es, den Chor in besonderer Weise zu begeistern Wir stammen aus Bath in England, wohnen seit 40 Jahren in Wuppertal, singen schon ebenso lange in diesem Chor mit und freuen uns noch heute auf jede Probe“ erzählen Bill und Margaret.
Die Kosten der Chorarbeit werden von Mitgliedsbeiträgen bezahlt. „Wir wollen jetzt über „Neustart Amateurmusik“ Mittel beantragen, um auch unsere musikalischen Beziehungen zu anderen Chören wieder zu beleben. Die Bundesregierung unterstützt damit Chöre bei der Bewältigung pandemiebedingter Beeinträchtigungen. “ erläutert der Vorsitzende Wolfgang Seidel.
Singen macht Spaß
„In den letzten 20 Jahren habe ich viele Konzertfahrten des Chores mitgemacht: nach Lüttich, Den Haag, Metz & Verdun, Brüssel, Maastricht, Danzig und Genf aber auch in der Nähe haben wir konzertiert: in Düsseldorf, Northeim, Leverkusen, Altenberg, oder Knechtsteden“ erzählte Norbert.
Für viele gehört das Singen seit der Jugend zu ihrem Leben, verleiht es doch gemeinsamen Mahlzeiten oder Geburtstagen Glanz, wie er auch auf diejenigen fällt, die im Großen Saal der Stadthalle die Matthäuspassion, das Weihnachtsoratorium, und andere große Oratorien mitsingen. Vor wenigen Jahren wurde in der prächtigen Viktoria Hall zu Genf gemeinsam mit dem dortigen Bach-Chor das Deutsche Requiem von Johannes Brahms gesungen und wenig später in Lodz (Polen) mit dem Solitude-Chor Stuttgart das Holocaust-Oratorium „I believe“ von Zane Zalis aufgeführt, 2017 wurde als europäische Uraufführung die „Sai Symphony“ des Komponisten Mike Hertings in der Stadthalle mit Riesenerfolg aufgeführt und aufgenommen. So werden unabhängig vom popkulturellen Mainstream nicht nur musikalische Traditionen gepflegt. Man versteht sich aber auch über Proben und Konzerte hinaus.
Sophie (22 Jahre alt, ): „Ich singe, weil es mich mit Menschen verbindet. Als ich wegen meiner Ausbildung nach Wuppertal umziehen mußte, habe ich so hier schnell Fuß gefaßt“.
Vor allem vor Konzerten wird zu „Probensamstagen mit Gedöns“ eingeladen, intensiv geprobt oder mitgebrachtes oft kuchenlastiges „Gedöns“ vertilgt. Übrigens in diesem Chor ist das Verhältnis von Sängerinnen zu Sängern erstaunlich ausgeglichen. Geschätzt werden die bunte gesellschaftliche Vielfalt und die Mischung auch zwischen den Generationen. Hier singt der Schreiner dem Banker ins Ohr, die Sekretärin neben der Lehrerin und die Biolaborantin neben der jung gebliebenen Oma. Vereinsamung droht nicht.
Nachwuchs gewinnt der Chor durch Mund-Propaganda, Begeisterung nach einem Konzertbesuch, Offenheit gegenüber allen Neuen. So kommen neue und jüngere Mitglieder dazu und machen mit.
Das nächste Konzert u.a mit Joseph Haydns „Stabat Mater“ findet am Karfreitag, 15. April 2022, 18:00 Uhr, Immanuelskirche, Wuppertal, statt.
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