„Üb' immer Treu und Redlichkeit“

Rezeption eines populären Gedichts im Wandel der Zeiten

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Üb' immer Treu und Redlichkeit“
 
Rezeption eines populären Gedichts im Wandel der Zeiten
 
Von Heinz Rölleke
 
In seinem Todesjahr 1776 verfaßte der allseits hochgeschätzte Dichter Ludwig Christoph Heinrich Hölty die 32 Verse seines Gedichts, dessen - in der siebten Strophe wörtlich wiederholten - vier Eingangzeilen ungeheuer populär wurden und teilweise bis heute blieben:
 
                        Der alte Landmann an seinen Sohn
                        Üb' immer Treu und Redlichkeit
                        Bis an dein kühles Grab,
                        Und weiche keinen Finger breit
                        Von Gottes Wegen ab.
 
Die Befolgung dieses Rates eines alten Bauern verheißt ein frohes, rundum zufriedenes Leben und schließlich einen Tod  ohne „Furcht und Grauen.“ Dem „Bösewicht“  wird so etwas nicht beschieden sein.
            Johann Heinrich Voß veröffentlichte das Gedicht in seinem „Musenalmanach“ von 1779. Den Versen  wurde später eine weithin bekannte Melodie aus Mozarts 1791 uraufgeführter  „Zauberflöte“ unterlegt (nach dem Lied des Vogelfängers „Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich“). Wohl weil hier typisch preußische Tugenden empfohlen wurden, fand Höltys Lied weite Verbreitung. Die Obrigkeit sah darin gewiß ein willkommenes Instrument, die ihr dienlichen Tugenden der Bevölkerung immer wieder einzuprägen. Die suggestive Kraft, die von solchen Glockenklängen ausgehen kann, hat Heinrich von Kleist in seiner Anekdote „Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken“ trefflich dargestellt: Der Säufer hört aus den Glockenklängen nacheinander heraus, er solle sich trotz seines Vorsatzes zur Abstinenz doch ein Gläschen „Pomeranzen“, dann ein Gläschen „Kümmel“, schließlich ein Glas „Anisette“ gönnen - dieser letzten Verführung erliegt er endgültig.
So wählte man Mozarts einprägsame Melodie auf den allseits beliebten Text 1797 für das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonskirche, das dann 150 Jahre lang bis zur Kriegszerstörung am 14. April 1945 zu jeder halben Stunde ertönte.
            Alsbald wurde neben der Hölty'schen Strophe ein neuer Text zur Mozart'schen Melodie propagiert:
 
                        Der Kaiser ist ein lieber Mann;
                        er wohnet in Berlin,
                        und wär' es nicht so weit von hier,
                        dann ging' ich heute hin.
 
Unter der Überschrift „Zum Geburtstag des Kaisers“ wurden diese Verse 1821 als Rollenlied einem naiv-liebevoll seinem Kaiser ergebenen Kind in den Mund gelegt. Kindliche Liebe wird dem Kaiser zum Geburtsfest von seinen Untertanen immer erneut versichert. Natürlich wurde der neue Text vor allem den Schulkindern vieler Generationen eingeprägt und gehörte zum Feierritual am Geburtstag des Herrschers. In einer deutschen Fibel von 1904 ist eine schulische Feier wie folgt beschrieben:
 
                        Auf dem Pulte steht zwischen schönen Blumen das Bild des
                        Kaisers. Nach Hochrufen singen wir das Lied „Der Kaiser ist
                        ein lieber Mann“, und hierauf dürfen wir nach Hause gehen.
 
Zwar dürften nach der Abdankung Wilhelms II. am 9. November 1918 solche Schulfeiern nicht mehr stattgefunden haben, aber das Huldigungslied wurde noch lange in manchen Schulfibeln tradiert und von Gegnern der Weimarer Republik bewußt weiter verbreitet. Eckhard John hat 2008 in seinem ausführlichen, hier dankbar benutzten Kommentar unter der Überschrift „Der Kaiser ist ein lieber Mann“ (Populäre und traditionelle Lieder; Deutsches Volksliedarchiv) die erstaunliche Liedgeschichte bis in die Gegenwart, sogar in Ländern wie Österreich oder Dänemark, nachgezeichnet und bündig geschlossen:
 
            Bis heute fungiert das Lied als Propaganda fürs Kaiserreich:
            in der allgemeinen Erinnerungsliteratur ebenso wie in den Schulmuseen
            von Hamburg, Bergisch-Gladbach und Leipzig, auf monarchistischen
            Web-Seiten oder aber als Motto kulturhistorischer Essays.
 
Auch in den Jahren nach 1918 läutete das Potsdamer Glockenspiel die einprägsame Melodie weiter. Zu seinen Klängen reichten sich Hindenburg und Hitler am 21. März 1933 (der später als Tag von Potsdam propagiert wurde) die Hand, und der Propagandaminister des Nazireichs Joseph Goebbels befahl dem Deutschlandsender, die Melodie des Glockenspiels als einzig genehmigtes Pausenzeichen zu bieten.
            Derselbe Goebbels fühlte sich wenig später von der klassischen Verfilmung der Kleist'schen Komödie „Der zerbrochne Krug“ (unter der fehlerhaften Bezeichnung „Der zerbrochene Krug“) im Jahr 1937 irritiert: Zum einen, weil der von Emil Jannings unübertrefflich dargestellte Dorfrichter Adam bekanntlich einen Klumpfuß hat, so daß in den Filmvorführungen dieses Detail als Anspielung auf dasselbe, oft heimlich verspottete Gebrechen des Propagandaministers belacht und bejubelt wurde; zum andern wohl auch, weil im Vorspann des Films das Potsdamer Geläut mittels einer Spieluhr eindeutig ironisch eingesetzt ist: Die Hauptakteure des Lustspiels üben alles andere als „Treu und Redlichkeit.“
Goebbels hatte der Verfilmung skeptisch entgegengesehen, vielleicht weil er den Bezug auf seinen Klumpfuß fürchtete. Jedenfalls hatte er den üblichen Produktionskostenzuschuß von zweihunderttausend Reichsmark abgelehnt. Nach Erscheinen des Films war er demnach auch etwas angefressen und kritisierte den Film als
 
            photographiertes Theater […]. Jannings hat auf meine Ratschläge nicht hören wollen.
           Er muß nun viel arbeiten und leisten, um das wieder gutzumachen.
 
Der alte Hölty-Text hatte inzwischen eine neue seltsame Blüte hervorgebracht. Als ich im Herbst 1943 in eine Dorfschule im Sauerland aufgenommen wurde, hatten die Erstklässler sofort drei Lieder zu lernen: „Deutschland, Deutschland über alles“, „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“ und „Der Führer ist ein lieber Mann.“ Letzteres hatte die aus Schlesien stammende Grundschullehrerin uns Schulanfängern beigebracht, obwohl es (noch) in keinem Liederbuch Aufnahme gefunden hatte.
 
                        „Der Führer ist ein lieber Mann,
                        er wohnet in Berlin;
                        und wär' es es nicht so weit von hier,
                        so zög ich nach Berlin.“
 
Der dümmliche Text hat sich mir lebenslänglich eingeprägt, und als ich 1993 „Das Volksliederbuch“ herausgab, schrieb ich im Kommentar zu „Üb immer Treu und Redlichkeit“:
                       
                        Im Dritten Reich lehrte man die Kinder auf die Melodie den
                        Text „Der Führer ist ein lieber Mann.“
 
Das berühmte Freiburger Deutsche Volksliedarchiv, dessen Gründungsabsicht es war, Liedzeugnisse der mündlichen Tradition aus allen Orten und Zeiten aufzunehmen, winkte noch 2008 ab. Das Zeugnis des „Liedforschers Heinz Rölleke“ schien nicht seriös zu sein, zumal das Führerlied noch in keinem Liederbuch nachzuweisen sei:
 
                        Solche nazistische Indienstnahme des Liedes ist jedoch als lokal
                        begrenzter Einzelfall zu bewerten. Eine weitgreifende Liedverbreitung
                        unter den Vorzeichen des „Führers“ fand jedenfalls nicht statt.



Hans Baluschek Volkslieder in Bildern - Üb immer Treu und Redlichkeit
Wohlfahrtskarte der deutschen Kolonialkrieger-Spende

Inzwischen haben andere Archive diesen Nazi-Text nach der Erinnerung vieler Schulkinder, die ihn zwischen 1935 und 1945 lernen und singen mußten, aufgenommen und archiviert. Damit ist die Behauptung, es handle sich bei meiner Erinnerung um einen „Einzelfall“ wohl hinfällig, zumal man gerade einem „Liedforscher“ wohl hätte trauen können. Wie sollte denn die Liedfassung ausschließlich im Unterricht einer sauerländischen Dorfschule während der Nazizeit Verwendung gefunden haben? Man kann doch wohl einer biederen Lehrerin nicht eine eigene Dichtung auf die bekannte Melodie zutrauen? Nein, die krude Textfassung ist eindeutig als ein weiterer Meilenstein auf dem langen Weg des Hölty-Liedes durch die verschiedensten Zeitläufte zu werten.
 
 
            © Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022