Der alte Mann und sein Hund (30)

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker

Der alte Mann und sein Hund
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Er war müde und beschloß, auf der nächsten Bank eine Rast zu machen. Er war mit seinem Freund Alfred verabredet, der sich auch schon bald laut stöhnend neben ihm niederließ. Der alte Mann lachte. „Gewinner sehen anders aus“, sagte er. „Woran merkt man eigentlich, daß man alt geworden ist?“ Alfred zog die Nase hoch, dachte nach und sagte: „Wenn man einen uralten Mann vor sich sieht, der aber jünger ist als man selbst und einem auch noch Tipps geben will, wie man sich so gut halten kann, dann ist man alt.“ Der alte Mann überlegte, ob „Tipps“ mit einem oder mit zwei p`s geschrieben wird und hörte weiter zu. Alfred fiel noch etwas ein: „Du merkst, daß du alt geworden bist, wenn dein Sohn dich nicht mehr bittet, auf seiner nächsten Party für die gute Laune Musik zu sorgen.“ „Das wäre aber schade“, sagte der alte Mann. „Ich habe so tolle LPs im Regal stehen, da springt jeder sofort auf die Tanzfläche.“ „Du bist alt“, sagte Alfred weiter, „wenn du beim Fleischer wieder eine Scheibe Wurst umsonst kriegst.“
     Der alte Mann lachte, schüttelte den Kopf und warf einen Stock auf die andere Parkseite, hinter dem sein Hund bellend herlief. „Du bist alt“, fuhr Alfred fort, „wenn du bei Weyhers ungefragt eine Seniorenbuchstabensuppe bekommst, deren Buchstaben so groß sind wie das Brandenburger Tor, damit man genau sehen kann, worauf man zu beißen hat.“ Der alte Mann schaute vergnügt seinem Hund nach, der versuchte, den Stock aus einem Busch zu ziehen. „Du bist alt“, sagte Alfred, „wenn du im Kaufhaus Klingenthal automatisch in die Faltenrockabteilung geschickt wirst, nur weil du gefragt hast, ob sie auch Mode haben, die zu deinem Gesicht passt.“ Der alte Mann verdrehte die Augen und erwiderte: „Du bist alt, wenn du immer mehr Krankheiten hast, deren Namen du nicht aussprechen kannst, die aber alle „Aua machen.“ „Genau“, sagte Alfred, „der Schmerz bleibt jung.“ Der Hund kam zum alten Mann gelaufen und legte den Stock stolz vor seinen Füßen ab. „Du bist alt“, sagte Alfred, „wenn dein Hausarzt vor dir stirbt.“ Der alte Mann bückte sich stöhnend, nahm den Stock an sich und warf ihn wieder weit fort. „Du bist alt, wenn jeder sagt, daß du dich überhaupt nicht verändert hast, aber dies einem dann ganz laut und ganz langsam ins Ohr geschrien wird.“ Alfred legte seine Hand auf die Schulter des alten Mannes und sagte: „Du bist alt, wenn du keine Freunde mehr hast, denen man doofe Fragen stellen kann.“
     Der alte Mann nickte. „Da habe ich aber nochmal Glück gehabt.“ Alfred lachte. „Das will ich meinen. Da hast du sogar unglaublich viel Glück gehabt.“

© 2022 Erwin Grosche