Brotaufstrich

von Eugen Egner

Zeichnung: Eugen Egner
Brotaufstrich
 
N. wollte nachsehen, ob sich an diesem Morgen jemand um die Schüler kümmerte. Um zu ihrer Unterkunft zu gelangen, suchte er die rückwärtige Tür auf, mußte aber feststellen, daß sie abgeschlossen war. Nun blieb ihm nichts übrig, als aus dem Fenster des Unterrichtsraums zu klettern. Kaum hatte er diesen betreten, blieb er wie festgenagelt stehen. Seinem verblüfften Blick bot sich nichts von dem, was er an diesem Ort gewohnt war. Die Fenster waren schwarz verhüllt, und kränklich-dämmriges Licht fiel auf einen großen Haufen Erde und Schutt am Boden des von sämtlichem Mobiliar entblößten Zimmers. Wer hatte diese Verwüstung nur angerichtet? Und wozu? Seinen schwächlichen Schülern konnte N. die Tat nicht anlasten, für sie wären die angehäuften Materialien viel zu schwer gewesen. Während er sich über all das wunderte, überfiel ihn ganz unvermittelt eine befremdliche Erinnerung. Bilder von hohen Erdhaufen, ja Gebirgen aus aufgeworfener Erde waren es. Dort war er unterwegs gewesen, bergauf und bergab – aber wo und wann sollte das gewesen sein? Er sah in die Höhe. Das dürftige Licht ging von einem gewölbten, irgendwie hölzern anzusehenden Himmel aus, der sich da befand, wo eigentlich die Zimmerdecke hätte sein müssen. Aus dem Gipfel des Schutthaufens ragte ein Metallrohr, an seinem Ende von einem altmodischen Wasserhahn gekrönt. Sollte N. hinaufsteigen, um nachzusehen, ob der Hahn dicht war? Er hatte tropfende Hähne immer gehaßt, es aber nie vermocht, Dichtungen auszuwechseln. Jetzt würde er also auch nichts ausrichten können und ersparte sich den mühsamen Aufstieg.
 In einer Ecke des so überraschend umgestalteten Raums lag ein gut zwei Meter langes Kanalisationsrohr von einem Durchmesser, daß ein ausgewachsener Mensch  hineinkriechen konnte. Aus der geöffneten Tür zum fensterlosen Nebenraum, wo sonst immer die Kinder gezeichnet hatten, traten plötzlich nacheinander vier stämmige Personen – die Köchinnen. N. wunderte sich, weshalb sie nicht in der Küche waren. Er hätte sie danach fragen können sowie danach, was hier eigentlich vor sich ging. Trotzdem dachte er nicht daran, sie darauf anzusprechen. Das einzig Richtige war, dem Schwindel keine Aufmerksamkeit zu schenken und schnellstens das Haus für immer zu verlassen. Allerdings fand er, daß die vier Frauen etwas Verstörendes an sich hatten, ja, sogar etwas Beängstigendes. Sie sahen ihn sonderbar an, ganz anders als je zuvor, und zwei von ihnen streckten ihm lange Messer entgegen. Ängstlich wich er vor ihnen zurück.
   „Der Brotaufstrich ist verbraucht“, sagte eine der Köchinnen mit fremder Stimme, und die anderen krächzten: „Es muß neuer her!“, „Und zwar sofort!“, „Die Schüler sind hungrig!“
Das war also der Grund, aus dem man ihn hier engagiert hatte! Von Todesangst gepackt, hielt N. Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Der Weg zur Tür war ihm verstellt, den Hügel zu erklimmen hatte keinen Sinn, und das Kanalisationsrohr war ja auch nur eine Falle. „Hierher!“ rief da eine Stimme hinter ihm. N. sah sich kurz um: Ein kleiner Junge schlüpfte aus dem Rohr. „Kriechen Sie hinein! Schnell! Ich lenk sie ab“, rief er – nein, es ist alles gelogen. Entschuldigung.


© Eugen Egner - Auszug aus "Schmutz"