Wahlverwandtschaften

beim 6. Kammerkonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal mit Sofja Gülbadamova, Hikaru Moriyama und Sylvester Perschler

von Johannes Vesper

Foto © Johannes Vesper

Wahlverwandtschaften

beim 6. Kammerkonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal
mit Sofja Gülbadamova, Hikaru Moriyama und Sylvester Perschler
 
Von Johannes Vesper
 
Welch ungewöhnliche Besetzung am 30.05.2022 im Mendelssohn-Saal der Historischen Stadthalle auf dem Johannisberg: Klarinette und Bratsche waren zu hören mit selten gespielten Werken unbekannter Komponisten. Bis auf Johannes Brahms, der, als er das Komponieren eigentlich schon aufgegeben hatte, für seinen Freund, den Klarinettisten Richard Mühlfeld, noch die beiden Sonaten für Klarinette und Klavier geschrieben hatte. Warm und amabile entfaltete sich der Klarinettenton von Sylvester Perschler zu Beginn der Sonate op. 120 nr. 2 (Es-Dur) bis mit erstem Klavierausbruch die spätromantische abgeklärte Dramatik des alternden Johannes Brahms ausbrach. Zur atmenden Dynamik des Soloinstruments bot Sofja Gülbadamova akkordisch vollgriffige, technisch anspruchsvolle Klaviermusik vom Fortefortissimo bis zum delikatesten Pianissimo. Drängend und rauschvoll breitete sich apassionata der 2. Satz aus, zeigte, wozu der Komponist trotz Altersmilde emotional immer noch fähig war. Nachdenklich beginnt zunächst Andante con moto das letzte Allegro dieser spätromantischen Kammermusik, die die Katastrophen des 20. Jahrhunderts noch nicht ahnen läßt. Der berühmte Kritiker und Brahmsfreund Eduard Hanslick wird im Programm dazu zitiert, er habe dabei gar „süße Schwärmerei und drängendes Liebesglück“ gehört. Sylvester Perschler stammt aus Wien und hat auch dort studiert. Er spielte bei den Dresdner Philharmonikern, beim Philharmonia Orchester London und seit 2020 als Soloklarinettist beim Sinfonieorchester Wuppertal. Sofja Gülbadamova am Klavier hat in Wuppertal inzwischen eine kleine Fangemeinde. Seit 2014 ist sie hier mehrfach aufgetreten, zuletzt mit dem 2. Klavierkonzert von Ernst von Dohnanyi beim Abschluß der Saison 2016/17 des SOW.
 
Anschließend war Hikaru Moriyama mit der Sonate von Rebecca Clarke (1886-1979) für Bratsche und Klavier zu hören. Geboren in Japan, studierte sie u.a. an der Juilliard School in New York, spielte im New Japan Philharmonic Orchestra und musiziert seit 2002als als stellvertretende Solobratschistin im SOW. Leidenschaftlich, empetuosa legte sie mit der punktierten charakteristischen Quintenfanfare temperamentvoll los. Deutlich moderner, konfliktreicher, rhythmisch aufregender, interessanter extrovertierter markiert diese Sonate der führenden englischen Komponistin nach dem 1. Weltkrieg einen Höhepunkt der schmalen Bratschenliteratur. Mi großem Klang, geheimnisvollem Flageolett-Arpeggien sowie hochkomplexem Klavierpart deuteten die beiden Musikerinnen brillant, souverän und makellos im Zusammenspiel die anspruchsvolle Sonate von 1919 aus. Wunderbar, das rezitativische Bratschensolo im Adagio des 3. Satzes. Herrlich, die zunehmende Intensität im letzten Agitato bei steigendem Tempo zum Ende hin. Da war aus der reinen Quinte des Anfangs der Tritonus, das Teufelsintervall, der Diabolus in musica geworden, vielleicht Einflüsse des grauenvollen 1. Weltkriegs? Da sie als Komponistin nicht akzeptiert wurde, startete Rebecca Clarke ihre Karriere als Bratscherin in London. Sie gilt als eine der ersten professionellen Orchestermusikerinnen.
 
Nach der Pause gab es das Klaviertrio für Klarinette, Bratsche und Klavier in Es-Dur von Gustav Jenner (1865-1929), der, obwohl in Keitum geboren und einziger Schüler von Johannes Brahms, selbst auf Sylt weniger bekannt ist als die Fischbude Goschs. Dabei wurde er von Tschaikowski entdeckt und von Theodor Storm hochgeschätzt. Sein Trio war ursprünglich für Klarinette, Horn und Klavier geschrieben worden. Bei warmem dunklem Klang von Klarinette und Bratsche zwischen im Diskant perlender Klavierromantik darüber und sonorem Baß darunter, bleibt der Einfluß des berühmten Lehrers bei aber durchaus eigener Musiksprache immer präsent. Souverän, melodisch schwelgend mit fein nuancierter Dynamik und ausdrucksvoller Agogik breiteten im Adagio des 2. Satz (Adagio) nach rezitativischen Klaviervorspiel Klarinette und Bratsche ihre Themen aus. Das motorisch losjagende Presto des 3. Satzes in Schumannscher Manier endet überraschend nach ff-Schlag mit Pizzicato Akkord im PP. Nach dem großen Allegro ma non troppo des Schlußsatzes bedankte sich das Publikum mit starkem Applaus für diese tatsächlich ungewöhnlichen musikalischen Wahlverwandtschaften zwischen Brahms und Jenner bzw. zwischen Bratsche und Klarinette.