Lieder von Schlaf und Tod

Matthias Goerne und Daniil Trifonov mit Liedern von Berg, Schumann, Wolff, Schostakowitsch und Brahms

von Johannes Vesper

v.l.: Daniiel Trifinov,, Matthias Goerme. Foto Christian Palm

Klavierfestival Ruhr in Wuppertal
 
Matthias Goerne und Daniil Trifonov mit Liedern von
Berg, Schumann, Wolff, Schostakowitsch und Brahms
 
Von Johannes Vesper
 
Der Bariton Matthias Goerne „residierte“ in der Elbphilharmonie und beim New York Philharmonic Orchestra. Er hat eine Welttournee mit Schuberts „Winterreise“ hinter sich, singt den Wotan, den Wolfram, den Wozzeck, füllt mit seiner Stimme die großen Opernhäuser der Welt und jetzt die Historische Stadthalle Wuppertals auf dem Johannisberg. Lieder von Alban Berg, Robert Schumann, Hugo Wolff, Dimitri Schostakowitsch und Johannes Brahms standen auf dem Programm. Die Begleitung auf dem Flügel besorgte Daniil Trifonov, dessen Welterfolg sich eingestellt hat, nachdem er 2010/11 drei der renommiertesten Klavierwettbewerbe gewonnen hatte: Chopin Wettbewerb (Warschau), Rubinstein-Wettbewerb (Tel Aviv) und den Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau. Er residierte ebenfalls in New York, spielt mit den Berlinern und Wiener Philharmonikern und vielen anderen großen Orchestern der Welt. Matthias Goerne kam mit diesem Konzert zum sechsten Mal und Daniil Trifonov zum fünften Mal zum Klavierfestival Ruhr.
 
Zu Beginn also gab es die vier Lieder op. 2 des 22-jährigen Alban Berg (1885-1935) nach Texten von Friedrich Hebbel und Alfred Mombert. Zu dieser Zeit war Berg noch Kompositionsschüler bei Arnold Schönberg (seit 1904). Möglicherweise verarbeitete er damit eine zweite große Liebe. Fünf Jahre zuvor hatte er mit dem Küchenmädchen seiner Eltern immerhin schon ein Kind gezeugt. Um romantische Liebeslieder herkömmlicher Art handelt es bei diesen Liedern nicht mehr. Atonalität breitet sich aus. Nach leisen, Orientierung suchenden hohlen Quinten des Flügels ging es mit ungeheurer, baritonaler, dynamischer Breite vom zartesten Pianissimo bis zum gewaltigsten FFF um Schmerz, Schlaf, Heimat, Riesen. Zuletzt - die Nachtigall flötet (in der Begleitung noch hörbar) auf sonnigen Wiesen - sang Matthias Goerne von unglücklicher Liebe, vom Tod des einen und dem Leben eines anderen „was die Welt so tief schön macht“. Ohne jeden Übergang schloß sich Schumanns Lied „Im wunderschönen Monat“ an, das erste Lied aus der „Dichterliebe“ Robert Schumanns, die auch „Komponistenliebe“ hätte heißen können. Er hat die 16 Lieder dieses Zyklus wie übrigens den größten Teil aller seiner 299 Lieder in dem Jahr (1840) komponiert, in welchem er seine geliebte Clara gegen alle Widerstände endlich heiraten konnte. Den Liederzyklus widmete er allerdings der Sopranistin Wilhelmine Schröder-Devrient. Nicht nur für Robert, auch für das Publikum bedeuten diese Lieder „lang entbehrte Seligkeit“. Beseelt und traumhaft sang Goerne mit edlem Bariton und ausdrucksvoller Körpersprache, sich mit ausgebreiteten Armen vom Notenpult ab-, nach rechts und links hinwendend, von früher Verliebtheit, unglücklicher Liebe, leidenschaftlichen Emotionen bis hin zu den alten bösen Liedern , mit denen von jeher alle Liebesträume begraben wurden. Leider war von den Gedichten Heinrich Heines kein Wort zu verstehen und sie im Programmheft bei stark abgedunkeltem Saal auch nicht lesbar. Die Gedichte stammen aus Heinrich Heines „Lyrischem Intermezzo“. In den zauberhaften Klaviernachspielen reflektierte Daniil Trifonov die Gefühlswelt der Romantik nachvollziehbar, ohne daß die dichterische Ironie Heines musikalisch eindeutig zu erkennen gewesen wäre.
 
Hugo Wolff (1860- 1903), in Slowenien geboren (Windisch-Grätz), war als Musiker zunächst nicht sehr erfolgreich. Nachdem seine Tätigkeit als Hilfskapellmeister am Salzburger Stadttheater nach drei Monaten gekündigt worden war, versuchte er sich als Musikkritiker, machte sich mit seinen bissigen Texten nicht nur Freunde. Befreundet aber war er mit Gustav Mahler. Er glühte nach einem Besuch des „Tannhäuser“ für Wagner, ätzte gegen Brahms und komponierte vor allem Lieder. Wo Musik und Wort sich begegnen, gilt er als einer der bedeutendsten Komponisten. Autobiographisch kann das Gedicht von Michelangelo „Wohl denk ich oft an mein vergangenes Leben“ kaum verstanden werden, denn die Syphilis, die er sich wohl im Alter von 17 Jahren zugezogen hatte, brach erst sechs Monate nach der Komposition symptomatisch aus. Aber die Tragik seines Lebens – Suizidversuch, Aufenthalt für fünf Jahre in der Niederösterreichischen Irrenanstalt Wien bis zum Tode - scheint Hugo Wolff geahnt zu haben, als er unter Michelangelos Gedichten „alles endet, was entstehet“ auswählte oder er sich musikalisch versenkt in Michelangelos Zwiespalt zwischen „Ja und nein, Süß und Herbe“ beim Blick in die Augen der Geliebten. Das endet immerhin in tröstlichem E-Dur-Nachspiel. Das Publikum konnte dieser ergreifenden Wendung kaum folgen, da sich bereits die Lieder Dmitri Schostakowitschs (1906-1975), ebenfalls auf Gedichte Michelangelos, nahtlos anschlossen. Bei der Präsentation des Programms ohne Pausen kann das Publikum den einzelnen Liedern der verschiedenen Komponisten trotz seelenvoller und ausdrucksstarker Stimme, makelloser Registerübergänge und souveräner und einfühlsamer Klavierbegleitung kaum gerecht werden. Die Lieder über Dante, Tod und Nacht, im Todesjahr des Komponisten zum 500. Geburtstags Michelangelos komponiert, sind Spätwerke des seit 1961 erkrankten Komponisten, der immer wieder stationärer medizinischer Behandlungen bedurfte wegen Lähmung der rechten Hand, Herzinfarkten, Beinbruchs, zuletzt Lungenkrebs und wie Michelangelo in seinem Gedicht „Nacht“, im Todesschlaf endlich Glück fand, allerdings unter Verlust der Tonalität.
 
 Übergangslos ging der Abend zu Ende mit den vier ernsten Gesängen op. 121 des 63jährigen Johannes Brahms (1833-1897), der im Alter auch die Vergänglichkeit des Lebens, Vereinsamung und den Tod bedacht und Texte aus der Bibel vertont hat. Etliche Freunde waren schon gestorben und Freundin Clara Schumann hatte einen Schlaganfall erlitten. „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh“ (1. Korintherbrief) ist das erste Lied überschrieben. „Alle, die Unrecht leiden unter der Sonne“ werden im zweiten Lied besungen. Da waren die Bedingungen heutiger industrieller Masttierhaltung und -Schlachtung noch nicht bekannt. Das Lied „Oh Tod wie wohl tust du dem Dürftigen“ weckt mit spätromantischer Musik die Zuversicht auf Glaube, Liebe, Hoffnung. Auf den trotz des ohne jede Pause aufeinanderfolgenden Gesangs eindrucksvollen Abend reagierte das ergriffene Publikum mit langer Stille und starkem Applaus. Nach Blumen und einigen Bravi gab es noch „Bist Du bei mir“ aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach von 1725. Nach 90 Minuten war alles vorbei.
 
Rechtzeitig zu diesem Konzert erschien am 09.06.2022 bei der Deutschen Grammophon die CD mit genau diesem Programm (Gesamtzeit: 1:18:52).
Matthias Goerne Bariton, Daniil Trifonov: Alban Berg Vier Lieder op. 2, Robert Schumann Dichterliebe op. 48, Hugo Wolff Drei Lieder nach Gedichten von Michelangelo, Dmitri Schostakowitsch Drei Lieder aus Suite nach Gedichten von Michelangelos Buonarroti op. 145. Johannes Brahms Vier ernste Gesänge op. 121.
Klavierfestival Ruhr, Samstag, 12.06.2022. Historische Stadthalle Wuppertal.