Licht und Schatten

Zwei späte Gedichte Conrad Ferdinand Meyers

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Licht und Schatten
 
Zwei späte Gedichte Conrad Ferdinand Meyers
 
Von Heinz Rölleke
 
Der berühmte Schweizer Lyriker (1825-1898) veröffentlichte vor dem Ausbruch seiner schweren psychischen Erkrankung (1892) ein Gedicht auf  die Stadt Venedig, die er mehrfach besucht hatte, sowie auf seinen letzten Wohnort Kilchberg westlich des Zürichsees, wo er von 1877 bis zu seinem Tod lebte und seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof der 500 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Scheitel des Zimmerberges liegenden reformierten Kirche fand.
 
Conrad Ferdinand Meyers Gedichte lassen den Poetischen Realismus der Keller, Storm und Fontane hinter sich und bilden eine Brücke zu Impressionismus und Symbolismus. Zwei hier vorgestellte Gedichte zeigen den Dichter als Meister der beiden literarischen Epochen: genaueste Wiedergabe von Impressionen und deren unaufdringlich eingebrachte symbolische Bedeutung. Wie weit gespannt Meyers Dichtungen sind, erweist sich hier darin, daß er durchaus verwandte Themen einmal an Beobachtungen in der Weltstadt Venedig in der Fremde und einmal an dem idyllischen heimatlichen Flecken Kilchberg festmacht.
 
1889 veröffentlichte er sein Venedig-Gedicht „Auf dem Canal grande“:
 
            Auf dem Canal grande betten
            Tief sich ein die Abendschatten,
            Hundert dunkle Gondeln gleiten
            Als ein flüsterndes Geheimnis.
 
            Aber zwischen zwei Palästen
            Glüht herein die Abendsonne.
            Flammend wirft sie einen grellen
            Breiten Streifen auf die Gondeln.
 
            In dem pupurroten Lichte
            Laute Stimmen hell Gelächter,
            Überredende Gebärden
            Und das frevle Spiel der Augen.
 
            Eine kurze, kleine Strecke
            Treibt das Leben leidenschaftlich
            Und erlischt im Schatten drüben
            Als ein unverständlich Murmeln.
 
Meyer wählt das Geschehen auf dem größten und bekanntesten der vielen Kanäle Venedigs als Sujet für sein Gedicht. Es ist eine Abendstunde, in deren Dunkel sich die Gondeln nach einer oft gemachten Beobachtung wie schwarze Särge ausnehmen. Sechs Jahre bevor das Gedicht entstand, war Richard Wagner im am Ufer des Kanals gelegenen Palazzo Vendramin gestorben, ein Ereignis, das seinerzeit vor allem in Deutschland noch gänzlich die kulturelle Szene beherrschte und im Zusammenhang mit den dunklen Gondeln unweigerlich Gedanken an Sterben und Tod assoziierte. Nur „zwischen zwei Palästen“ lichtet sich das geheimnisvolle Dunkel für einen Augenblick: Die tiefstehende Sonne wirft einen nicht eben Wärme und Vertrauen erweckenden „grellen Streifen“ über den Kanal, und ihr zwielichtiges purpurrotes Licht fällt auf die zahlreich auf dem Kanal gleitenden Gondeln. Es dürfte sich um eine genaue Beobachtung an einer fixierbaren Stelle handeln: Die ungefähr gleich aussehenden Palazzi Loredan und Farsetti nahe der Rialto-Brücke werden durch eine schmale Gasse getrennt. Sie dürfte die Anspielung auf die zwei Paläste bestimmt haben. Aus dem geheimnisvollen Dunkel kommend, durchfährt eine Gondel den „breiten Streifen“, den die Abendsonne über den Kanal wirft, so daß diese akustisch und optisch erkennbar wird. Die einleitenden Gedanken an Tod und Vergehen werden dergestalt übertönt: Auf den grellen Lichtstreifen antworten laute Stimmen und Gelächter. Verführungsszenen und frevelhaftes Flirten werden für einen Augenblick erkennbar (das vorausgehende Vokabular hat die Szene vorbereitet: „flüsterndes Geheimnis“, flammendes Glühen der Abendsonne, das purpurrote Licht).
 

Foto © Frauke Fuck

Venedig war vor allem in deutschen Dichtungen (bis hin zu Thomas Manns „Tod in Venedig“) auch immer ein Topos für  (verbotene) Liebe. In der Stadt soll ein Zehntel aller Frauen als Prostituierte tätig gewesen sein, denen man die überredenden Gebärden und das frevle Spiel der Augen wohl ehestens zuschreiben darf. Aber diese leidenschaftliche Szene entschwindet rasch den Blicken, denn die Gondel taucht nach dem Durchgleiten des Lichtstreifens wieder in den Schatten ein. Licht und Leidenschaft erlöschen gleichzeitig, und das helle Gelächter weicht einem unverständlichen Murmeln. Die reimlosen Verse bilden in der ersten und in der dritten Zeile jeder Strophe ein Enjambement: Ein Satz geht jeweils in den nächsten über. Ein Gleiten wird so auch akustisch unaufhörlich vernehmbar.
 
Symbolisch wird hier der Lebenslauf ins Bild gesetzt: Das Leben kommt aus einem geheimnisvollen Dunkel und endet wieder in einem solchen. Dazwischen ereignet sich das nur kurze und wohl nicht immer sinnvoll angegangene Leben, das in der Gefahr steht, seine Zeit in Leidenschaft und kurzfristigen Affären zu vertun. Aus den dunklen Schatten taucht es für kurze Zeit ins Licht (der untergehenden Sonne!) und verschwindet wieder in den „Schatten drüben“. Akustisch artikulierte es sich für kurze Zeit in einem eher unangenehmen Gelächter und unangemessen lautem Stimmengewirr. Zuvor war das Leben nur in unentwirrbarem flüsternden Geheimnis hörbar, und hernach verliert es sich in sinnlosem, unverständlichen Murmeln.
 
Ganz ähnliche Impressionen von Licht und Schatten und deren Symbolik sind schon in den acht Jahren vor dem Venedig-Gedicht unter dem Titel „Requiem“ veröffentlichten Versen auszumachen. Auch hier ist die untergehende Sonne ein zentrales Motiv. Den lärmenden akustischen Eindrücken auf dem Canal grande steht hier ein Geläut gegenüber, das vergleichbar aus stummem Nichts erwächst und wieder in dieses übergeht.
 
            Requiem
 
            Bei der Abendsonne Wandern,
            Wann ein Dorf den Strahl verlor,
            Klagt sein Dunkeln es den andern
            Mit vertrauten Tönen vor.
 
            Noch ein Glöcklein hat geschwiegen
            Auf der Höhe bis zuletzt.
            Nun beginnt es sich zu wiegen,
            Horch, mein Kilchberg läutet jetzt.
 
Das Gedicht erschien erstmals am 1. Juli 1880; die Einfügung einer Mittelstrophe  („Viele Schläge...“) hatte Meyer später erwogen, dann aber wieder verworfen. Wie im früheren Venedig-Gedicht sind auch hier wieder das Neben- oder Nacheinander von Licht und Schatten, von optischen und akustischen Impressionen sowie die untergehende Sonne konstituierende Motive. Die beiden Strophen bestehen aus acht schlichten Versen im volksliedhaften Kreuzreimverbund mit jeweils einer weiblichen und einer männlichen Kadenz. Die intendierte lapidare Einfachheit der Sprache läßt das Gedicht wie aus einem Guß erscheinen.
 

Friedhof Kilchberg - Foto © Friedhofsverwaltung Gemeinde Kilchberg

Kleine Dörfer, die an einem Berghang aufsteigend plaziert sind, begegnen in einem sich wandelnden abendlichen Landschaftsbild. Im aufwärts steigenden letzten Licht der untergehenden Sonne verlieren die Dörfer - eines nach dem andern - den Strahl. Zugleich werden nacheinander Glockentöne hörbar, die als Klage über die einbrechende Dunkelheit verstanden werden können. Das tägliche abendliche Geläut der Glocken folgt nicht einer künstlichen Zeitmessung, sondern dem Naturverlauf, denn die Dunkelheit fällt an jedem Tag ein wenig früher ein. Das höchstgelegene und einzig mit Namen genannte Dorf  Kilchberg hat als letztes noch in der Sonne gelegen, aber nun verliert es auch „den Strahl“, und das Abendglöcklein beginnt sich zu wiegen und zu klingen. Der Tag klingt für jedes Dorf zeitversetzt in der einsetzenden Dunkelheit und im tröstlichen Geläut der Abendglocke aus. Dann ist es dunkel und still – eine Atmosphäre, die durch die Überschrift in die Nähe von Sterben und Tod gerückt ist: „Requiem“ ist der Titel der lateinischen Totenmesse. Erst in der allerletzten Zeile artikuliert sich überraschend das Lyrische Ich mit dem Fürwort „mein“. Der Dichter identifiziert sich realiter mit diesem Ich des Gedichts: Er lebte damals in Kilchberg, und er fand dort achtzehn Jahre später seine letzte Ruhe. Bis heute kann man sein Grab auf dem dortigen Friedhof besuchen, und an den Dichter erinnert ein Grabmal an der Westfront der Dorfkirche. So schwingt auch in den Worten des Gedichts eine Ahnung von der friedlichen Ruhe im Tod mit, den der Text des lateinischen Requiems erfleht und verheißt:
 
            Requiem aeternam dona eis Domine,
            et lux perpetua luceat eis.
 
Ruhe wird den Menschen mit der einfallenden Nacht geschenkt, und das erloschene Sonnenlicht wird durch ein ewiges Licht überstrahlt.
 
Ein Gedicht voll leiser Melancholie, wie sie sich bei jedem Abschied einstellt - und eben auch beim Versinken des lichten Tages in der dunklen Nacht und zugleich voll schlichtem Vertrauen auf eine religiöse Geborgenheit: Ein kurzes unscheinbares Gedicht, ein Meisterwerk, das die ständige Wiederkehr des Gleichen im alltäglichen Tageslauf ebenso wie die Hoffnung auf eine ewige Ruhe und ein ewiges Licht ausspricht.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022