Im Zustand der Verwirrung

Betrachtungen über Verschlüsse

von Erwin Grosche

Foto © Uwe Nölke
Im Zustand der Verwirrung:


Es ist sehr wichtig für die Haltbarkeit und die Hygiene von in Töpfen gelagerten Lebensmitteln, daß der richtige Deckel auf das dazu passende Gefäß kommt. Tuben, Töpfe, Dosen, Glasbehälter, jeder Inhalt will geschützt und geschmückt sein. Nutella bevorzugt einen weißen Schraubverschluß, Stutemarmeladengläser schützen sich durch Blechdeckel, die sich verbeißen. Die Plastikbox von Vitam R Hefe hat einen Hut auf, den man brutal auf die Dose drückt, um ihre Frische zu erzwingen. Der Nestlékakao schützt sich durch einen gelben Reinschiebriegel, der in der Badewanne als Kutter durchgehen könnte. Dreht, schraubt, stülpt und schiebt man die Verschlüsse von Dosen und Behältern, sieht man das Dilemma dieser Nichtkombinierbarkeit. Nichts paßt zu dem anderen, keiner schützt mehr als sich selbst, nichts ist kompatibel. Ein egoistischer Weltwind streift auch das Verpackungswesen und läßt sich selbst der Nächste sein. Das ist gewollt, spricht den Zeitgeist an und soll Exklusivität vorgaukeln. Aber machen wir uns nichts vor: Im Zustand der Verwirrung ist es oft unmöglich, diese unterschiedlichen Verschlußsysteme dem zu beschützenden Gefäß zuzuordnen. Alle irren umher im Lande der Töpfe und Dosen und hoffen auf die Eingebung eines gütigen Gottes, der hilft, jeden Deckel wieder dem passenden Gefäß zuzuordnen. Die Welt ist verrückt geworden und das im Namen der Ordnung, der Zweckmäßigkeit und der Schönheit. Zum Glück haben wir keine abschraubbaren Köpfe und können uns nicht unter dem Kopf eines anderen verbergen. Mein Kopf gehört mir, auch wenn er manchmal so anderes denkt, als ich will. Ein bisschen Freiheit kann nicht schaden, oder?


© Erwin Grosche