Südtirol literarisch kennenlernen
Eine gelungene Anthologie
Wer noch nie in Südtirol war, könnte Reisen dorthin für spießig halten, wie ich bestätigen kann und Christoph Poschenrieder es in seinem exklusiven Beitrag zu dieser lesenswerten Anthologie sehr lebendig beschreibt. Wer aber je seinen Fuß in dieses Paradies im Süden der Alpen gesetzt, die liebenswerten, gerne auch zurückhaltenden Menschen dort getroffen, mit ihnen den einen oder anderen Schoppen getrunken und die Südtiroler Traum-Landschaften auf Schusters Rappen durchwandert hat, weiß es besser.
16 lesenswerte Geschichten und Literaturauszüge öffnen den Blick für Natur, Menschen und Geschichte Südtirols, das nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektiert und zwangsweise italienisiert wurde. Nach jahrzehntelangen Kämpfen, Widerstand und Blutvergießen haben die Südtiroler nicht nur eine praktikable Autonomie erworben, sondern sind damit zufrieden, zu Italien zu gehören, können sie doch jetzt als wohlhabende und relativ freie Provinz die Vorteile nutzen, die Italien ihnen bietet. Aber es war ein langer Weg. Marco Bolzano berichtet im ersten Beitrag „In den Katakomben“, einem Romanauszug aus „Ich bleibe hier“ von der dunklen Zeit unter Mussolinis Faschisten. Tim Parks beschreibt die Flucht des prominenten Journalisten Harold Cleaver in die Abgeschiedenheit eines hoch in den Bergen liegenden Südtiroler Dorfes, um dort seinen Frieden zu finden, Maria Janitschek und Maria von Buol erzählen von kargen, harten Leben der Armen im wohlhabenden Land.
Südtirol ist eine Region der landschaftlichen, kulturellen und volkskundlichen Gegensätze. Zwischen Berggipfeln und Palmenpromenaden, leichtem Dolce Vita und bäuerlichem Traditionsbewußtsein ist eine eigenständige Kultur gewachsen, in der man spricht Deutsch und Italienisch spricht und die Landessprache Ladinisch pflegt. Vom Schatten der Obstbäume, sonnigen Almen, düsteren Kapiteln der Geschichte und immer wieder von der gewaltigen Schönheit der Berge und ihren Anforderungen erzählen Marco Balzano, Maria von Buol, Claus Gatterer, Tim Parks, Kurt Lanthaler, Donna Leon, Lenz Koppelstätter, Maria Janitschek, Matteo Righetto, Herbert Rosendorfer, Joseph Zoderer, Francesca Melandri, Christoph Poschenrieder und Michael Köhlmeier. Was allerdings Kurt Tucholskys „Ein Ehepaar erzählt einen Witz“ am Schluß in dieser ansonsten homogenen Anthologie zu suchen hat (nur weil das Stichwort Dolomiten fällt), bleibt mir ein Rätsel.
Die ideale Ferien,- Reise- und Balkonlektüre für alle, die Südtirol kennen oder es kennenlernen möchten. Ein gelungener „Reiseführer“ der ganz besonderen Art. Eine Empfehlung der Musenblätter. Unser Buch der Woche.
Südtirol - Geschichten zwischen Almen und Palmen
Ausgewählt von Silvia Zanovello, Marie Hesse und Lena Thomma
© 2022 Diogenes Verlag, 260 Seiten, Broschur – ISBN: 978-3-257-24597-4
12,- € (D) / 16,- sFr Weitere Informationen: www.diogeners.ch
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