Lessings „Emilia Galotti“

Seit 250 Jahren kontinuierlich im deutschen Theaterrepertoire

von Heinz Rölleke

Gotthold Ephraim Lessing 1767, Anna Rosina de Gasc fec.
Lessings „Emilia Galotti“
 
Seit 250 Jahren kontinuierlich im deutschen Theaterrepertoire
 
Von Heinz Rölleke
 
Es ist wohl unbestritten neben „Minna von Barnhelm“ das älteste Stück deutscher Literatur, das man einigermaßen regelmäßig auf hiesigen Bühnen sehen kann. Titel aus spätmittelalterlichen Spielen wie aus der Barock- und Rokokozeit begegnen immer nur vereinzelt und verschwinden dann meist für lange Zeit oder für immer. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Vor allem sind es Schwierigkeiten mit der älteren Sprachform, aber auch mit den veralteten Themen der Tragödien und Lustspiele, die man heute keinem breiteren Publikum mehr zumuten will. Lessings Schauspiel (Uraufführung im März 1772) wird zwar einerseits noch der Epoche der Aufklärung zugerechnet, zeigt aber andererseits bereits Züge der grundstürzenden 'Sturm und Drang'-Periode (1770-1790) mit ihren gegenwärtig noch immer präsenten Autoren wie Goethe, Lenz, Wagner, Klinger oder Schiller. Die jungen Stürmer und Dränger beriefen sich zwar auf Lessings Trauerspiel als ersten Durchbruch ihrer neuen Ideen, haben es aber wohl mißverstanden und jedenfalls zu einseitig rezipiert.
 
„Emilia Galotti“ wertet man allerdings mit vollem Recht bis heute als Beginn der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels, als dessen letzter Vertreter Friedrich Hebbels Tragödie „Maria Magdalena“ (1844) gilt.
Seit 1624, dem Erscheinungsjahr des Buches „Von der Deutschen Poeterey“ des Martin Opitz galt die eiserne und allseits befolgte Regel, daß Tragödien ausschließlich in Kreisen der Könige, der Fürsten und des Adels angesiedelt werden durften, damit die „Fallhöhe“ der tragisch scheiternden Protagonisten ein gehöriges Maß hatte, das ihnen Anteilnahme bescherte. Als Beispiele können zwei Tragödien-Titel des großen Bühnendichters Andreas Gryphius dienen: „Leo Armenius, oder Fürsten-Mord. Trauerspiel“ (1652); „Ermordete Majestät, oder Carolus Stuardus. König von GroßBritannien. Trauerspiel“ (1657).
 
Das bürgerliche Milieu sollte hingegen der Komödie vorbehalten sein. Auch dafür können die Titel zweier Dichtungen des Gryphius stehen: „Absurda Comica, oder Herr Peter Squentz. Schimpff-Spiel“ (1658); „Seugamme oder Untreues Haußgesinde. Lust-Spiel. Deutsch“ (1663).
An diese Gesetzgebung hielten sich die deutschen Bühnendichter ausnahmslos, bis Lessing es wagte, die Protagonisten seiner Tragödie als Bürgerliche zu gestalten (zunächst in der anonym 1757 erschienenen Tragödie „Miss Sara Sampson . Ein bürgerliches Trauerspiel“). Das wirkte auf die jungen Dichter sensationell und wurde zum Vorbild für ihre eigenen Werke. Als Beispiel sei nur auf Schillers Erfolgsdrama „Kabale und Liebe“ (1784) verwiesen, in dem die Musikantentochter Luise Miller im Mittelpunkt der Tragödie steht. Meist ist es jeweils der Adel oder ein Regierender, die die Katastrophe der bürgerlichen Protagonisten herbeiführen. Vollständig aus dem Spiel gerät der Adel erst in Hebbels „Maria Magdalena“, wo gezeigt wird, daß ein selbstbewußter gewordenes Bürgertum, das seinen inneren Adel nicht auf Hohe Geburt sondern auf edle Gesinnung und edles Handeln gründet, an seinen inzwischen fragwürdig gewordenen Ansichten von Ehre und gesellschaftlichem Ansehen in sich selbst zugrunde geht,
 
Lessing greift auf die sogenannte „Virginia“- Episode zurück, die der römische Historiker Livius in der Zeit um Christi Geburt geschrieben hat. Im Jahr 451 vor Christus soll einer der sich als immer bösartiger entpuppenden über Rom herrschenden Dezemvirn die Jungfrau Virginia zu vergewaltigen versucht haben. Um sie vor diesem Verderben zu retten, erstach sie ihr Vater mit dem Argument, er habe damit ihre Freiheit der Selbstbestimmung gerettet. Lessing versetzt die Handlung in ein italienisches Duodezfürstentum in der Zeit des Absolutismus und macht aus der römischen Adeligen eine Tochter aus dem Stand des gehobenen Bürgertums. Der Prinz Hettore Gonzaga, eine glänzende Persönlichkeit, hat sich in Emilia verliebt, fühlt sich aber durch deren bevorstehende Heirat mit dem Grafen Appiani gestört. Darum läßt sein gewissenloser Kammerherr Marinelli (der Name erinnert nicht zufällig an den politischen Philosophen Nicolò Macchiavelli, der 1513 in seiner Schrift „Il Principe“ die unumschränkte Herrschaft jedes absolutistischen Fürsten rechtfertigt und verteidigt), läßt die Verlobten auf dem Weg zur Trauung überfallen: Appiani wird getötet, Emilia in ein Lustschloß des Prinzen verbracht. Emilia ist heimlich in den Prinzen verliebt und fühlt sich auch deshalb moralisch gefährdet. Als ihr Vater ihren Selbstmord verhindert, erinnert sie ihn an den Vater der römischen Virginia, und Odoardo tötet sie mit dem Spruch, er habe „eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert“; Emilia nimmt die Schuld an ihrem gewaltsamen Tod auf sich und entschuldigt den Vater sterbend: „Nicht Sie, mein Vater – ich selbst – ich selbst.“
 
Lessings Tragödie verdankt ihren anfänglichen Ruhm und ihre ständige Bühnenpräsenz zunächst dem Umstand, daß sie als Zeugnis für die heftige Kritik am herrschenden Absolutismus verstanden wurde, die ja zentrales Thema des Sturm und Drang-Dramas sowie des Bürgerlichen Trauerspiels war. Ihre Popularität noch nach 250 Jahren ist indes eher der feinen, zeitlosen Psychologie der Figuren und Rollen und der glänzenden Theatersprache, die sich vor allem in der bewundernswerten Präzision der Dialoge und der Handlungsführung zeigt, zuzuschreiben.
 
Goethe, der 1772 Lessings Tragödie als „nur gedacht“ kritisierte, erwies ihr zwei Jahre später seine größte Hochachtung: Sie war Werthers letzte Lektüre vor seinem Suizid („Emilia Galotti lag auf dem Pult aufgeschlagen“). Goethe hatte inzwischen die Thematik des Lessing'schen Dramas erkannt, die nur am Rand die seinerzeit übliche Absolutismuskritik berührt. Trotz vielfacher Kritik an den Auswüchsen des Absolutismus und an den schmeichlerischen Hofschranzen wird das Drama nie zur Anklage: Der Prinz ist weder Despot noch Schwächling oder ein bloßes Triebwesen. Er ist vielmehr moralisch ernst zu nehmen, aber ein Mensch mit privaten Schwächen, die er sich als öffentliche Person nicht leisten dürfte. Nicht was er ist, ist verwerflich, sondern daß er als Souverän Verwerfliches tut, dessen Wünsche ja - auf Grund des absolutistischen Systems - Befehle sind. Das machen seine Schlußworte (also als herausgehobenes letztes Resümee) besonders deutlich. Fürsten sind auch nur Menschen und dürften es im umfassenden Sinn doch eigentlich nicht sein. Emilia ist kein unschuldiges Opfer. Sie ist ihrer Tugend nicht sicher und hat Angst vor ihrer eigenen Verführbarkeit. Das heißt: Ihre Tragik liegt in ihr selbst und nicht im Absolutismus. Das Finale des Dramas bringt kein Gericht über den fehlbar gewordenen Souverän wie in anderen Sturm und Drang-Dramen, sondern dessen Schlußwort: „Gott! Gott! - Ist es zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich noch Teufel in ihren Freund verstellen?“ Er schiebt also seine Schuld nicht auf den teuflischen Marinelli, wie die meisten Interpreten glauben, vielmehr hat der Prinz eine Einsicht gewonnen, obwohl trotzdem alles beim Alten bleibt. Die Gesellschaftsordnung mit ihren Schwächen wird nicht in Frage gestellt, sondern Lessing entwickelt innerhalb dieser Gesellschaftsform ein psychologische, keine soziale Tragödie.
 
Den Zuschauer schreckt hier kein Fall eines Hochgestellten, sondern er hat Mitleid mit dem tragischen Schicksal einer Bürgerlichen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022