Räume

von Erwin Grosche

Foto © Arkadiy Kurta                                                                                                                                                                                                                        Instagram

Räume
 
Es gibt Räume, da dürfen sie das nicht machen“, sagte der Mann mit dem weißen Kittel. Herr Hemdsorgel hatte gerade angefangen sich zu strecken und wollte dann ausgiebig gähnen, um seine Müdigkeit zu zeigen. „Ist das so ein Raum?“, fragte Herr Hemdsorgel. Der Mann nickte. „Das ist kein Gähnraum“, sagte er. „Der Gähnraum ist am Ende des Ganges.“ Herr Hemdsorgel hatte den Urlaub nur angetreten, um seine Reflexe zu trainieren. Ihm war aufgefallen, daß er in letzter Zeit nicht lachte, obwohl vieles lustig gewesen war. Er schüttelte verwirrt den Kopf, obwohl er nicht sicher war, ob das hier erlaubt war. „Ist das denn hier ein Kopfschüttelraum?“, fragte er. Der Mann mit dem weißen Kittel rieb sich mit großen Händen das Gesicht. „Sie sind hier fremd“, sagte er, „da machen wir schon mal Ausnahmen, aber der Raum wird auch nicht zum Kopfschütteln genutzt.“ Er machte eine Pause, um Herr Hemdsorgel die Möglichkeit zu geben eine Frage zu stellen, aber Herr Hemdsorgel blieb lieber stumm. 
„Dies ist ein Fensterschau-Raum“, sagte der Mann mit dem weißen Kittel. „Man steht hier am Fenster und schaut heraus. Der gesamte Ausblick wurde nach den Plänen von Colani gestaltet.“ Herr Hemdsorgel schaute aus dem Fenster. Eine nackte Frau mit langen blonden Haaren saß auf einem Einhorn und ritt über eine Klatschmohnwiese. Er wollte anerkennend pfeifen, aber wußte, daß der Pfeifraum heute im Keller war und von ehemaligen FDP-Politikern genutzt wurde. Er schaute der Frau auf dem Pferd nach und spürte seine Reflexe erwachen. „Typisch Colani“, dachte Herr Hemdsorgel. „Typisch Colani.“
 
 
© 2022 Erwin Grosche