Wendehälse & Co.

Menschentypen charakterisierende Vogelnamen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Wendehälse & Co.
 
Menschentypen charakterisierende Vogelnamen
 
 
Von Heinz Rölleke
 
Eduard Mörike verfaßte 1836 das Gedicht „Zur Warnung“. in dem sich eine Passage findet, die ihm an einem verkaterten Morgen die Muse eingegeben hat. Er zitiert den „schnöden Bafel“:
 
Es schlägt eine Nachtigall
Am Wasserfall
Und ein Vogel ebenfalls,
Der schreibt sich Wendehals,
Johann Jakob Wendehals.
 
„Wendehals“ bezeichnet einen Vogel aus der Familie der Spechte, der seinen Hals auffällig nach allen Seiten zu drehen vermag. Sein 'Gesang' wirkt gegenüber dem Schlagen der Nachtigall wohl nur wenig kunstvoll. Ein naturkundliches Buch beschreibt den Vogel 1779 entsprechend:
 
            Er kann den Hals, der ziemlich lang ist, um und um drehen
            und führet dabei ein klägliches Geschrei.
 
In Mörikes Gedicht ist der Name dieses Vogels zweifellos im übertragenen Sinn zu verstehen, denn er wird einem Menschen namens „Johann Jakob“ zugewiesen. Derartige Übertragungen von charakteristischen Bezeichnungen bestimmter Vögel auf Menschentypen mit scheinbar oder tatsächlich ähnlichen Eigenschaften begegnen kontinuierlich in der Literatur seit Anfang des 17. Jahrhunderts. In diesem Sinn heißt es bei Friedrich Rückert:
 
Wendehals!
Wende deinen Hals
Und in allen Wendungen dich zeigen
Magst du allenfalls.
 
Der Wendehals wird aufgefordert, sich in all seinen Wendungen zu zeigen, sich zu entlarven, damit man sofort sieht, wen man vor sich hat: einen unzuverlässigen Kantonisten, einen wetterwendischen Opportunisten, der sein Mäntelchen in rascher Folge nach dem jeweils für ihn günstigen Winde hängt.
 
Der Sprachmeister Johann Fischart faßt 1575 die Bezeichnung des Vogels schon als Synonym für „Heuchler“ und „Windhals“ auf. Hingegen kennt Adelung1786 „Wendehals“ nur als Vogelnamen. 170 Jahre später (1955) verzeichnet das Grimm'sche Wörterbuch die übertragene Bedeutung des Vogelnamens unangemessen spärlich, obwohl beispielsweise seinerzeit bereits eine deutsche Partei wegen ihrer scheinbar wetterwendischen Koalitionswechsel diesen Titel trug. Geradezu inflationär wurde der Begriff aber in der Wendezeit gebraucht, als die DDR der BRD beitrat: Auf beiden Seiten machte man angebliche oder tatsächliche Wendehälse aus. Damals wurde ein Demo-Spruch populär, der geschickt die alte Herkunft des Namens mit seiner Position in der sogenannten Nachwendezeit verband: „Kein Artenschutz für Wendehälse.“. Der große Duden gibt 1988 keinen Hinweis auf den inzwischen längst dominierenden  übertragenen Gebrauch des Namens! Heute ist festzustellen, daß sich seit 1990 die Bezeichnung Wendehals in übertragener Bedeutung so stark durchgesetzt hat, daß darüber ihre  ornithologische Herkunft fast in Vergessenheit geraten ist, obwohl der vom Aussterben bedrohte Wendehals 1988 zum Vogel des Jahres gekürt worden war.
 
Wenn man in jüngerer Zeit einen bestimmten Frauentyp wenig charmant mit einem Vogelnamen  bezeichnen will, spricht man von einer Schleiereule. Die Wörterbücher begnügen sich noch heute mit der Auskunft: „Schleiereule – auch ein Schimpfwort für eine Frau.“ Wie ist es dazu gekommen? Wegen des femininen Genus betrifft die übertragene Bedeutung ausschließlich Frauen. Die Eulen galten insgesamt als unheimliche und unheilverkündende geheimnisvolle Nachtvögel. Wenn sie dann noch nach dem charakteristischen Aussehen ihrer Gesichter als Schleiereulen bezeichnet wurden, wird die Ahnung, daß sie etwas dem Menschen anscheinend Befremdliches verschleiern, zur Gewissheit. Der allmähliche Übergang von der eher neutralen Benennung des Vogels zur Bezeichnung einer wenig angenehmen Person läßt sich in der Literatur zwar nur spärlich aber eindeutig nachweisen. Im 17. Jahrhundert liest man bei Grimmelshausen: „Meine Haare waren in dritthalb Jahren“ nicht gepflegt worden, „daß ich darunter herfürsahe mit meinem bleichgelben Angesicht wie eine Schleiereule, die auf eine Maus spannt.“ Im 18. Jahrhundert heißt es beim Märchendichter Musäus: „Sie gleicht an Gestalt einer Schleiereule.“ Der österreichische Schriftsteller Ferdinand von Saar schreibt 1877: „Als ich mich der Schwelle näherte, hörte ich [...] ein helles Lachen erklingen, wie das einer Schleiereule.“ Es blieb also lange Zeit hindurch beim Vergleich; die übertragene Bedeutung setzte sich erst seit dem 20. Jahrhundert allmählich durch. Der Duden von 1988 bietet ebenso wenig wie  zum Lemma „Wendehals“ eine Bemerkung zu dieser übertragenen Bedeutung, die trotz zunehmender Verwendung noch nicht eindeutig festgelegt scheint. Meist wird eine ältere, vorwiegend isoliert lebende weibliche Person „Schleiereule“ genannt, deren Anblick kaum Gutes erwarten läßt, ohne daß man sich direkt durch sie bedroht fühlte. Wie der unheimliche Nachtvogel lassen so eingeschätzte Frauen wenig von sich erkennen, zumal sie ihre Identität verschleiern.
 
Ringeltaube ist unter anderen eine Bezeichnung für eine recht einmalig erfreuliche weibliche Erscheinung. Dieser von der Spezies einer Taubenart übernommene Name hat sich in übertragenen Bedeutungen durchgesetzt, obwohl die Ringeltaube unter ihren Artgenossen mittlerweile die am meisten verbreitete Spezies bildet. Es ist also durchaus rätselhaft, warum gerade die Bezeichnungen „Ringeltaube“ oder „Ringeltäubchen“ merkwürdiger  Weise immer für etwas Seltenes, Kostbares stehen, dessen Erwerb meist einem glücklichen Zufall zu verdanken ist.  Briefmarkensammler nennen eine besonders seltene Marke ein Ringeltäubchen. Bei einer Brautwahl hat man Glück, wenn man aus den Frauen eine Ringeltaube gewählt hat.
 
Der Rabe ist ein altehrwürdiger Vogel, den man früher als weises und weissagendes Tier verehrt hat und der heute in Kennerkreisen noch immer sehr hoch geschätzt wird. Da muß es verwundern, daß man ihm schon bald bei seiner Übertragung auf bestimmte Menschentypen Schimpfnamen beigelegt hat. Man nennt Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, „Rabeneltern“, den sich unflätig benehmenden Menschen ein „Rabenaas“. Damit tut man dem Vogel Unrecht, weil man sein Verhalten nicht richtig gedeutet hat. Es ist eine Besonderheit der Raben, daß die geschlüpften Jungen ihr Nest früher verlassen als sie fliegen können und infolgedessen eine Weile scheinbar hilflos auf dem Boden herum hüpfen. Daraus entwickelte sich die falsche Vorstellung, die Rabeneltern hätten ihre Jungen erbarmungslos aus dem Nest gestoßen. So kamen bei Übertragung der Bezeichnung die sich scheinbar oder wirklich ihren Kindern gegenüber unangemessen verhaltenen Eltern zu ihrem beleidigenden Titel. Der Rabe als Aasfresser  führte zur übertragenen Bezeichnung „Rabenaas“, unter die man viele schlechte menschliche Eigenschaften und Verhaltensformen subsumierte.
 
Der Spatz wird meist als ein süßer, vergnüglicher, quirliger, manchmal keck frecher Vogel wahrgenommen und geschätzt. Obwohl von maskulinem Genus, wird er von Liebhabern als Kosenamen  für junge Frauen gebraucht, die diesen Charakterzügen entsprechen. Andererseits erhält er den wenig schmeichelhaften, aber nie ganz bösartig gebrauchten Titel „Dreckspatz“. Damit ist nur scheinbar eine Identität mit dem „Schmutzfink“ gegeben: Spatz und Fink suhlen sich zwar gleichermaßen in Sand oder Modder, der Fink aber beschmutzt auch andere, der Sperling nur sich selbst. Das sollte man genau unterscheiden, wenn man einen Menschen mit diesem oder jenem Schimpfnamen bedenkt.
 
Der Hänfling ist ein schmächtiger kleiner Singvogel, dessen Name von seiner bevorzugten Nahrung, dem Hanfsamen hergeleitet ist. Seit dem 14. Jahrhundert ist die Form „henfe-linc“ belegt. Auf den Menschen übertragen bezeichnet der Name eine schwächliche Person von schmächtiger Figur (umgangssprachlich „schmales Handtuch“, „halbe Portion“).
 
Der Gimpel gehört zur Familie der Finken, ein kräftiger starknackiger Vogel mit farbenfrohen Gefieder, dem er seinen zweiten Namen „Dompfaff“ zu verdanken hat: Er erscheint so bunt gekleidet wie ein hoher katholischer Würdenträger, nämlich in plenis coloribus (in vollem Farbschmuck). Weil er leicht  - etwa durch Leimruten, deren Gefährlichkeit er nicht erkennt -  zu fangen ist, gilt er als einfältig. Als Einfallspinsel und schlechter Sänger wird er schon seit dem Mittelalter in Sprichwörtern und Volksliedern ironisiert und verspottet.
 
            Kein Gimpel so simpel, er sucht ein Amt,
            Unbekümmert um den dazu nötigen Verstand.
 
Wie man ihn einschätzte und sich zugleich über ihn lustig machte, erzählt ausführlich das Gedicht „Gimpelglück“, das nach einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1614 durch „Des Knaben Wunderhorn“ wieder bekannt gemacht wurde. Der Gimpel wird angeredet und unter anderem deswegen verhöhnt, weil er als einziger Vogel mit den Eulen befreundet sei.
 
            Daß er […] der Eulen also wohl tat gefallen,
            An Federn ich ihn gleich erkannt,
            Daß er der Gimpel ward genannt.
            Von Art bist du ganz wohl geziert,
            Gleichwie ein Gimpel sich gebührt.
            Auch wegen deines süßen Gesangs,
            Bleibst du ein Gimpel dein lebenlang.
 
In der neueren Literatur betrifft die Bezeichnung „Gimpel“ kaum noch den Vogel, sondern einen einfältigen, leicht zu täuschenden Menschen. 
 
Der Star gehört zu einer in aller Welt am häufigsten anzutreffenden Singvögelart. Umso merkwürdiger, daß mit dieser Bezeichnung solche Menschen  geehrt werden, die in ihrem Fach gerade singulär herausragen. Immerhin bildet man die Pluralformen unterschiedlich: Stare (Vögel),  Stars (Künstler). 
 
Erst in jüngerer Zeit ist die Bezeichnung Haubenlerche (ein Vogel mit spitzer Feder) auf Nonnen oder Krankenschwestern wegen ihrer Haubentracht übertragen worden, scheint aber schon wieder außer Gebrauch zu kommen.
 
In eine andere Kategorie gehören die Bezeichnungen von Vögeln, die nicht auf einen Menschen in toto übertragen werden, sondern dessen bestimmte Defizite und Verhaltensformen bezeichnen. Dafür nur zwei Beispiele.
 
Die Schwalbe gehört seit je zu den beliebtesten und bekanntesten Vögeln. In vielen Liedern und Sprüchen wird sie als Glücksbringer bezeichnet. Neuerlich steht ihr Name im Sportbereich für eine unfaire und betrügerische Aktion, etwa wenn Fußballspieler das Foul eines Gegners vortäuschen und sich möglichst theatralisch zu Boden fallen lassen. Dort bleiben sie dann gewöhnlich in Schwalbenformation liegen: die Arme wie Flügel ausgebreitet, die Beine gestreckt wie ein Schwalbenschwanz. Der merkwürdige Bezug zu dem beliebten Vogel dürfte wohl aus der Beobachtung gewonnen sein, daß Schwalben oft ungewöhnlich tief, in Bodennähe fliegen.
 
Die Meise ist ein Singvogel aus der Klasse der Sperlinge. Im übertragenen Gebrauch hat sich die spezifische Bezeichnung „Meise“ seit 1800 redensartlich neben dem „Vogel“ etabliert. „Er hat 'ne Meise“ meint dasselbe wie „er hat 'nen  Vogel.“ Man vermutet, daß diese und andere Wendungen oder Gesten (man tippt an die Stirn und zeigt damit den Vogel) aus der alten Vorstellung herrühren, daß ein Tick, eine ungewöhnliche Marotte, eine fixe Idee, eine leichte Verrücktheit durch kleine Vögel verursacht würden, die im Gehirn nisten. Auffällig ist, daß die jüngst aufgekommenen Synonyme nicht mehr auf einen  Störer der Gehirnfunktionen abheben, sondern Defizite umschreiben: Man hat nicht alle Tassen im Schrank, nicht alle Latten am Zaun, man hat eine Ecke ab und andere mehr.
 
© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter