Über Schicksalskontingenz und den Umgang mit ihr

Jonas Grethlein – „Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben.“

von Johannes Vesper

Blasenkarzinom und Ilias
 
Über Schicksalskontingenz und den Umgang mit ihr
 
Am Ende der Ilias sind viele gestorben. Nichts hat sie vor dem Tod bewahrt und schon gar nicht Ehre, Ruhm und Tapferkeit. Ihr Schicksal erläutert Achill, „der mutige Renner“, dem Vater seines Hauptfeindes Hektor, als der ihn um den Leichnam des erschlagenden Sohnes bittet, und erzählt ihm die Parabel von den zwei Fässern des Zeus, eines gefüllt mit guten, das andere gefüllt mit schlimmen Dingen. Aus diesen Fässern teilt der donnerfrohe Zeus aus. Demjenigen, der die traurigen Gaben bekommt, dem ergeht es schlecht im Leben. Und Zeus mischt immer Gutes und Schlechtes. Niemand erhält allein nur Gutes. Achill wußte, daß der Mensch sein Schicksal nicht selbst bestimmt, nicht selbst bestimmen kann. Er hat zwar die Möglichkeit in der offenen Zukunft zu handeln, aber sie manifestiert sich, einfach so, geschieht, ohne daß wir sie wesentlich beeinflussen können. Kontingenz ist das, „was weder unmöglich noch notwendig ist“.
 
Achill erlebt diese Schicksalskontingenz, als sein Freund Patroklos völlig unerwartet auf dem Schlachtfeld fällt. Dessen Tod erschüttert ihn und er ändert sein Leben daraufhin vollständig, vergißt den Zorn auf Agamemnon und beginnt, Trojaner zu jagen und zu erschlagen. Mit dem Tod des Freundes sieht er plötzlich der eigenen Sterblichkeit eiskalt ins Auge und in seiner strahlenden Jugend, Kraft und Unbesiegbarkeit, trotz seiner göttlichen, von Hephaistos für ihn geschmiedeten Waffen, seinem eigenen Ende entgegen. Und warum schreibt ein junger, begabter, höchst erfolgreicher Wissenschaftler heute über diese alten Geschichten griechisch-literarischer Vorzeit? Er hatte im Rahmen seiner Habilitation für Klassische Philologie intensiv die ca. 15.000 Verse der Ilias mehrfach (auf Altgriechisch natürlich) gelesen und verspürte mit 27 Jahren als frischgebackener Privatdozent am Ende seines zweijährigen Forschungsaufenthaltes in Boston und am Ende eines wunderbaren Tages an einem der nahegelegenen Strände Massachusetts plötzlich stechende Schmerzen im Unterbauch, bemerkte Blut im Urin und immer wieder Brennen beim Wasserlassen. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr stand die Diagnose fest und die hat ihn „umgehauen“. Da verspürte er selbst die „eisige Luft, die den heillosen Achill“ in der Ilias umweht hat, erlebt selbst die erschreckende Fragilität des Lebens. Mit seinem Blasenkrebs hatte er eine statistische Wahrscheinlichkeit von 17%, die nächsten 10 Jahre zu überleben und war berührt von der Ilias, sah sein eigenes Lebens plötzlich in anderem Licht, konnte „durch den feinen Schliff der Ilias bis auf den Grund seiner Krebserfahrung sehen“ und schreibt darüber, daß die Ilias, jenes frühe Epos, vielleicht der Beginn westlicher Literatur, im geholfen habe, das erste Jahr nach der Diagnosestellung zu überstehen. Achill ließ ihn über das „Gefühl schlechthinniger Abgängigkeit“ nachdenken und über den Begriff der Kontingenz. Warum gerade ich? Warum kehrte der Beste der Achäer nach dem Sieg über Troja nicht in die Heimat zurück. Warum konnte er nicht das glückliche Leben des Erfolgreichen führen? Warum stirbt er einen frühen Tod? All das fragt sich im Jahre 2022, also ca. 2800 Jahre später als Achill, auch der Autor dieses ernsthaften Buches, als er von seiner schicksalhaften Diagnose erfährt und der Katastrophe gegenüberzustehen glaubt. Er hat den Krebs inzwischen seit Jahren überlebt. Aber auch für Achill war der Tod das Schlimmste, was im drohte. Die Tröstungen des Christentums standen noch aus und er wollte doch lieber als Ackerknecht auf der Erde arbeiten als über die Schatten der Toten in der Unterwelt Herr sein.
 
Der Begriff der Kontingenz geriet in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich in Vergessenheit. Stets zunehmendes Wachstum, anscheinend grenzenlose Energieverfügbarkeit, Erfolge der Medizin bedeuteten in unseren Breiten für viele Reichtum, Fernreisen und ein bequemes Leben. Dann aber wütete das Coronavirus, kam es zu erschütternden Szenen in Bergamo, zu einer globalen Pandemie, und alles kam ins Rutschen. Dazu fing Putin den Krieg gegen die Ukraine an, mit dem er hofft Demokratie und Freiheit des Westens aus seinem Einflußgebiet herauszuhalten. Und plötzlich wurde die Energie, die Grundlage unseres Lebensstils, knapp. Die Illusion mit russischem Gas noch Jahrzehnte in Saus und Braus leben zu können verflüchtete sich schnellstens und ein großer Teil der Bevölkerung hier in Deutschland fürchtet, im Winter im Kalten zu sitzen bzw. die Heizung nicht mehr zahlen zu können. Zu guter Letzt wird jedem deutlich, welche katastrophale Auswirkungen unsere Lebensweise, gegründet auf fossiler Energie und wirtschaftlichen Wachstums, inzwischen zeitigt. Seit den „Grenzen des Wachstums“ 1972 angekündigt und in zahlreichen internationalen Kongressen diskutiert, spüren wir die selbstgemachte Klimakatastrophe und Temperaturen über 40 Grad sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Flüsse und Seen trocknen aus, Nahrungsmittel können nicht nur wegen des Krieges nicht mehr in die Hungergebiete der Welt gebracht werden, sondern auch bei uns kaum mehr in ausreichender Weise produziert werden. Paradox darüber hinaus, daß 60% des in Deutschland produzierten Weizens in der Viehfuttermittelindustrie landen.
 
Alle diesen bedrohlichen Szenarien, für die Lösungen aktuell kaum möglich scheinen, werden in dem Buch von Jonas Grethlein nicht behandelt. Aber Schicksalskontingenz, die Frage also, warum ich an lebensbedrohlichem Krebs erkranke, warum sich gerade bei uns hier die Energiekrise heute manifestiert, betrifft offensichtlich nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze Nationen oder Staaten. Im Buch reicht unserem Autor die Bedrohung durch sein Blasenkarzinom und erzählt höchst kenntnisreich, offen, unterhaltsam und spannend über das Schicksal Achills, welches er in Beziehung setzt zu eigenen Erfahrungen als Krebspatient im modernen Medizinbetrieb und mit Freundinnen und Freunden, deren Unsicherheit im Umgang mit Krebspatienten zu Enttäuschen und Entfremdung geführt hat. Er berichtet darüber wie die Lektüre der Ilias ihm geholfen hat, mit seinem Schicksal fertig zu werden. Er macht deutlich, daß Homer in seiner Ilias Grundfragen der menschlichen Existenz behandelt, die für jeden von uns noch heute von Bedeutung sein können.
 
Jonas Grethlein – „Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben.“
© 2022 Verlag C.H. Beck oHG, 207 Seiten, gebunden – ISBN: 978-3-406-78206-0
24.-€
 
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