Zwei Haare eine Falte

von Wendelin Haverkamp

Wendelin Haverkamp - Foto © Manfred Zehner
Zwei Haare eine Falte
 
Von Zeit zu Zeit, da fragt mich meine schöne junge Frau: „Meinst Du nicht, Du müßtest mal langsam mal wieder mal zum Frisör? Ich ruf schon mal an wegen eines Termins, sonst drückst Du dich wieder!“
       Dabei ist das gar nicht wahr. Ich hab nix gegen Frisöre, um Himmelswillen. Die sind auch nicht schlimmer als Kneipenwirte, abgesehen davon, daß man bei ihnen nichts zu trinken kriegt. Nein, der Grund, weshalb ich nicht zum Frisör gehe, ist ganz ein anderer und Teil meines persönlichen, ästhetischen Gesamtansatzes.
       Das Problem ist doch: Man sieht hinterher so neu aus. Akut frisiert wie eine haarkünstlerische Installation aus Mesopotamien, quasi Cheops frisch aus der Pyramide gepellt. Grauenhaft! Und ich muß mich wieder 'ne Woche verstecken, bis ich so gebraucht aussehe, daß ich mich unter Menschen traue.
       Natürlich zweifelt meine schöne junge Frau die philosophische Dimension meiner Theorie von „Schönheit und Leben“ als vorgeschoben an und unterstellt, während sie mit dem Fingernagel, in der Regel vergeblich, an einem undeļ¬nierbaren Fleck auf meinem zerfransten Mantel herumkratzt, einen primitiven Verdrängungsvorgang, mit dem ich angeblich die Erkenntnis eines unaufhaltsamen Haarausfalls zu überspielen versuche.
       Überhaupt nicht wahr und greift zu kurz; die Sache muß grundlegend ästhetisch diskutiert werden und führt zu dem Punkte: Was hat Schönheit mit dem Leben zu tun? Respektive Leben mit der Schönheit. Hat sie überhaupt? Und schon sind wir da, wois weh tut.
Schöne neue Kleidung zum Beispiel: Entsetzlich. Keine Falte, kein Brandloch, keine gezogenen Fäden, sondern steif gestärkte Hemdsärmel und Hosenbeine eins zu eins aus der Fabrik - ekelhaft: Sofort ein Glas Rotwein drübergießen, zwei Stunden kochen und in der Wäscheschleuder durchwalken lassen - und ganz langsam beginnt der Stoff zu leben.
       Oder nehmen wir mal was schon in der Substanz elementar Häßliches: Bierkrüge! Was gibt es Häßlicheres als Bierkrüge, die primitiv poliert neben Zinntellern und ähnlichem Horror-Inventar auf staubgewischten Simsen geschmacklos vor sich hinglänzen, ohne je einen Tropfen Bier gesehen zu haben - abstoßend!
       Doch selbst in diesem Falle: Wenn der Deckel wackelt und schief steht, wenn das Scharnier vom immerwiederigen Auf- und Zuklappen beim Trinkvorgang verbogen ist, sozusagen leicht angeverbogen, dann lebt plötzlich sogar ein Bierkrug.
Nun wäre es übertrieben zu behaupten, ein Gegenstand sei schön deshalb, weil er nicht mehr funktioniert. So einfach ist die Sache nicht, wenngleich einer nicht funktionierenden Parkuhr eine gewisse Ausstrahlung nicht abzusprechen ist und ein zum Beispiel implodiertes Martinshorn fast sowas wie Charme haben kann - aber das ist nicht der Punkt.
       Nehmen wir mal was Sympathischeres - ein Stück Käse, da wird es vielleicht deutlicher. Ein Käse liegt jung und fest auf seinem zuständigen Teller und strahlt weiß und hart. Da! Der Werbemann schneidet ein Stückchen ab und schiebt es seiner Werbefrau zwischen die Jacketkronen, die verzückt die collagenen Augen schließt, um unverzüglich ohnmächtig nach hinten links in die Tiefe des Bildes wegzustürzen. Denn: Dieser Käse ist tot und führt zum sofortigen Ableben.
       Jedoch aber! Sieht der Brie aus, als wäre er vorige Woche unters Auto gekommen, braun und dreckig liegt er da, unförmig quellen ihm die Innereien nach allen Seiten aus dem stinkenden Körper - dann lebt er!
       Was ist schöner als die vernarbte Holzplatte eines Küchentisches, auf dem geschwungene Rillen von abrutschenden Brotmessern künden und tiefe Kerben von der Hinrichtung widerspenstiger Salami-Enden und Parmesan-Ecken Zeugnis ablegen. Oder Beulen in großformatigen Töpfen, die man mit heißem Zwiebelgulasch, weil unfaßbar, brutal hat fallen lassen; erst der gezackte Sprung in der Keramik beweist das Vorhandensein der menschlichen Spezies auf diesem Planeten.
       Geht doch weg mit fehlerlosen CD-Brennern und wartungsfreien Ceranfeldern, laßt mich in Ruhe mit fangfrischen Forellen auf knapp kalkulierten Seniorentellern und selbstreinigenden Freizeithosen. Ich behalte meinen vergilbten Schreibtisch, schiebe 2-3 zerlesene Zeitungen schief gefaltet ineinander, steige, wenn überhaupt, dann nur völlig ausgetretene Steinstufen hinab und haue mir 6-8 Eier in die rostige Pfanne mit dem wackeligen Cholesterin-Griff, aus der mir die Kratzspuren vom Lösen hunderter schwarz angebratener Schinkenreste lauthals entgegenlachen.
       Und auf der Couch verdauend sehe ich mir die Fotos meiner früh entlaubten männlichen Vorfahren an, von denen keiner in meinem Alter noch eine so prächtige Haarfülle besaß wie ich. Was heißt da Schönheit „oder“ Leben? Jeden Tag zwei tote Haare weniger, aber dafür eine lebendige Falte mehr. Wie schön.
 
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003