Gähngott am Abend

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Bernd Mueller
Gähngott am Abend
 
Es passierte selten, daß er beim Gähnen die Kontrolle über sich verlor. Daß er also dem Gähnreiz nachgab und sich dieser Vorgang so verselbstständigte, daß er zulassen mußte, daß es ihn auseinanderriß. Aus dem Gähnen entsprang dann sogar noch ein Gähnen, das wirklich von einem Zustand zeugte, der tief erschöpft war und sein Vergessen anprangerte. Er wurde dabei nicht laut, obwohl er schreien wollte, denn dies war genau der Moment, wo man der Welt sein entstelltes Antlitz präsentierte. Das war man nicht mehr selbst. Da hatte jemand die Macht über einen an sich gerissen. Der Gähngott war da. Man wußte doch selbst nicht, wie weit man sich öffnen konnte. Man wußte doch selbst nicht, daß das Gesicht zu solchen Entgleisungen in der Lage war. Augenaufreißen kannte man, auch das Strecken aller Gliedmaßen bis was knackte, war bekannt, aber hier meldete sich eine Widerstandsgruppe zu Wort, die am liebsten noch im Reich der Träume unterwegs gewesen wäre. Die am liebsten noch ein eigenes Leben führen wollten, fern ab von jeder Einflußnahme. Das war ein Protest, eine Besetzung der Mundhöhle, eine Geiselnahme mit Forderungen. „Wir wollen Euch zeigen wie es ist, wenn man uns nicht schlafen läßt. Wir gefährden damit die öffentliche Ordnung.“
      
Gähnen soll ansteckend sein. Warum nicht das Lieben, warum nicht das Glücklichsein? Im Grunde brachte hier jeder normale Benimmführer die Hand ins Spiel, doch was haben wir gelacht, wenn wir bei diesen kleinen Gähnanfällen, diesen Gähnseufzern den Mund abdecken sollten. Aber dies sollte uns nur vorbereiten auf das Große und Ganze. Dies sollte uns nur zeigen wie es geht, wenn man die anderen vor sich schützen muß. So wie wir einen Schirm mitführen, weil wir den Regen erahnen, sollten wir immer die Hand in Bereitschaft halten um der Öffentlichkeit dieses verzerrte Bild von uns zu ersparen, wenn das große Gähnen uns entstellt. Manche können gar nicht damit umgehen, uns so zu sehen. Der Schrei von Munch entstand aus diesem Gähnen. Wer so gähnen kann, wer sich so wenig im Griff hat, der vergißt auch am Montag seinen Mülleimer auf den Bürgersteig zu stellen und vergibt auf amazon nur einen Stern für ein Buch von Peter Handke, obwohl er es gar nicht gelesen hat. Gähnen soll ansteckend sein. Warum nicht das Lieben, warum nicht das glücklich sein? Weil Gott unersetzlich bleiben will.
 
(Spielen auf Kinderklavier D-Moll/ G-Moll7 C-DUR/ D-Moll/ F/D/DG/ D/D. Mit Falsett-Stimme singen. Das Gähnen zwischen den Zeilen einbauen.) 
 
© 2022 Erwin Grosche

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