Der Geheimplatz
Jeder Mensch sollte einen Geheimplatz haben, wo er sich hinbegeben kann, wenn er des Lebens überdrüssig wurde und Kraft schöpfen muß. Wenn im November der Gasthof Weyher für vier Wochen seine Türen schloß, wußte ich nie wohin. Ich irrte mit meinem Hund umher durch die Wälder und niemand lud uns ein sich auszuruhen oder einen Kaffee zu trinken. Es war dann der junge Herr Weyher, der mir anbot, mich in der Zeit, wo sein Gasthof geschlossen war, draußen im Wintergarten aufzuhalten, um dort einen mitgebrachten Kaffee zu trinken und ein selbstgeschmiertes Butterbrot zu futtern. Ich meine wirklich er hätte „futtern“ gesagt, auch um damit die gemütlich Atmosphäre des Geheimplatzes zu unterstreichen. Eigentlich saßen in dem überdachten und durch Planen eingefassten Verhau die Raucher, und im Herbst wurden hier Bänke und Tische gebunkert, um sie vor der rauen Witterung zu schützen, aber mit ein wenig Phantasie konnte man sich hier einen schönen Geheimplatz gestalten.
„Ich habe einen Geheimplatz“, dachte ich stolz. „Jeder Mensch, der einen Geheimplatz hat, kann der Öffentlichkeit entfliehen, wenn ihn die Menschen anöden.“ Später hörte ich dann, daß auch ein anderer Stammkunde, Fritz, diesen Wintergarten nutzen würde. Da ich aber nur am Vormittag unterwegs war und sich Fritz hier des Nachmittags breit machen wollte, würden wir beiden uns nicht in die Quere kommen, hoffte ich. Wir konnten uns hier zurückziehen, wenn es draußen regnete oder andere Sorgen uns plagten. Ich freute mich also auf dieses Doppelleben, um diese weyherfreie Zeit zu überbrücken, ja überstehen zu können. Wie irritiert war ich, als ich bemerkte, daß Fritz, der Mitnutzer vom Nachmittag, meinen Geheimplatz sehr unordentlich hinterließ. Fritz war Zigarrenraucher und hielt es nicht für nötig, den Aschenbecher zu leeren oder ihn wenigstens woanders hinzustellen, wo er niemanden störte. Das Fß zum Überlaufen brachte aber die liegengelassene Werbezeitung, die Fritz anscheinend mitgebracht hatte, um sie während seines Aufenthaltes durchzublättern. Ich erkannte mit einem Blick, daß er sich so breit machte, weil er nicht wußte, daß ich diesen Platz als Geheimplatz nutzte. Ich ahnte, daß er diesen Platz nicht als Geheimplatz empfand, sondern als Unterstellmöglichkeit, wenn es regnete. „Auch einen Unterstellplatz sollte man so hinterlassen, daß ihn andere noch als Geheimplatz benutzen können“, dachte ich. „Mein Geheimplatz ist ein Geheimplatz und kein Fritzplatz “ Ich schüttelte den Kopf. War es möglich, daß die Nutzung dieses Ortes verschiedene Bedürfnisse zuließ? Konnte mein Geheimplatz auch gleichzeitig ein beliebiger Platz für Zigarrenraucher und Werbezeitungsblätterer sein? Machte nur mein Schweigen darüber ihn zu einem Geheimplatz? Ich nickte und sitze nun manchmal an meinem Geheimplatz, trinke meinen mitgebrachten Kaffee und futtere ein Bütterken. Ich genieße die Zeit, wo keiner weiß wo ich bin und was ich mache. Wie stark der Mensch sein kann, wenn er sich etwas in den Kopf setzt. Vieles ist möglich, wenn wir wissen was wir wollen. Das Leben ist schön, wenn wir es wollen. Auch Gott ist da, wenn wir es wollen. Die Erde ist sein Geheimplatz.
© 2022 Erwin Grosche
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