Der synthetische Hirsch

von Eugen Egner

© Eugen Egner
Der synthetische Hirsch
 
Der Oberförster hatte alle Hirsche bis auf einen erlegt. Dieser eine war einfach zu schlau und entwischte immer wieder.
   »Ich muß auch den letzten Hirsch zur Strecke bringen«, sprach der Ober­förster zu sich selbst, während er seine Brille putzte. »Erst dann habe ich mei­ne Lebensauf­gabe erfüllt und kann mich meinen Hobbies widmen.«
   Seine Hobbies waren nämlich: das Sammeln von Katzen mit Blumenmuster, das Dressieren kleiner Autos und das Verbiegen von Fahrrädern - lauter sehr aufwendige, faszinierende Hob­bies, die man einem Oberförster eigentlich gar nicht zutrauen würde. Aber solange er noch nicht restlos alle Hirsche erledigt hatte, kam er nun einmal nicht richtig da­zu. Und zur Jagd kam er auch nicht richtig, weil ihn erstens dauernd die Hausarbeit davon abhielt und ihm zweitens seine blumengemusterten Katzen dauernd die Brille fraßen (alle Katzen sind verrückt nach Brillen, aber die Katzen des Oberförsters ganz besonders). Aufgrund eines sehr seltenen Augenleidens war der Oberförster bei der Jagd dringend auf seine Spezialbrille angewiesen, weil sonst alles ganz künstlich für ihn aussah, und er echte Tiere nicht von unechten unterscheiden konnte. Er befand sich also in einer sehr unangenehmen Lage.
   An manchem Abend konnte man ihn im Forsthaus schimpfen und jammern hören: »Die blöde, blöde Hausarbeit! Vor lauter Staub­sau­gen, Wäschewaschen, Bügeln, Kochen und Ge­schirr­spülen komme ich nicht zu meinen Hobbies! Und ich habe doch so schöne Hobbies! Ach, und außerdem muß ich noch den verdammten letzten Hirsch erlegen! Ausgerechnet jetzt haben die Katzen­bie­ster wieder meine Brille gefressen! Da sieht doch alles so künstlich für mich aus! So kann ich unmöglich auf Jagd gehen! Was mach ich nur? Was mach ich nur? Es ist zum Verzwei­feln!«
   Das hörte zufällig der letzte Hirsch, den der Oberförster nicht kriegen konnte. ‘Interessant, interessant, der Herr Oberförster kommt also vor lauter Haus­arbeit nicht zu seinen Hobbies’, dachte der Hirsch und hatte eine Idee. Eine geniale Idee, wie sich zeigen sollte. ‘Es müßte ihm jemand die Hausarbeit ab­nehmen, und ich wüßte auch schon jemanden... Noch interessanter ist aber, daß er nicht auf die Jagd kann, weil für ihn ohne Brille alles künstlich aussieht. Da brauche ich ja nur dafür zu sorgen, daß ich mich obendrein künstlich anfühle, damit er mich für ganz und gar künstlich hält. Und ich muß verhindern, daß er je wieder eine Brille aufsetzt. Na, mit Hilfe der Katzen wird mir das schon gelingen.’ 
   Er schlich davon und machte sich in seinem Versteck ein wenig zu­recht, rieb sein ganzes Fell mit Haargel ein, daß er sich anfühlte wie lackiert und malte sich die Lippen rot an. Mit einer kleinen An­tenne im Geweih und Fliesenleger-Knie­schonern rundete er seine Erscheinung gefällig ab. In dieser Aufmachung lief er zum Forsthaus. Drinnen schrie der Oberförster soeben wieder, daß er so viel zu tun habe und zu nichts komme.
   Der Hirsch klopfte an, und der Oberförster öffnete die Tür:»Wer oder was sind Sie?«
   »Ich habe gehört, Sie suchen eine Haushaltshilfe«, sagte der Hirsch ganz dreist.
   Der Oberförster war überrascht: »Stimmt. Aber Sie erinnern mich an jemanden. Wenn ich nur wüßte, an wen! Sehen Sie nicht ein bißchen aus wie ein Hirsch?«
   »Das mag sein, aber ich bin nicht echt«, log der Hirsch. »Ich bin ein synthetischer Hirsch. Es wäre beispielsweise völlig sinnlos, Jagd auf mich zu ma­chen.«
   »Synthetisch?« fragte der Oberförster. »Das kann jeder sagen. Für mich sieht nämlich alles künstlich aus.«
Er befühlte den Hirsch mißtrauisch: »Igitt, dieses glitschige Kunstfell, An­ten­ne im Geweih, Knieschoner - Sie sind ja wirklich durch und durch synthetisch. Aus Fernost, würde ich sagen. Und was können Sie?«
   »Meine Spezialität ist Hausarbeit jeder Art.«
   Der Oberförster wurde hellhörig:»Das ist ja ein toller Zufall! Sind Sie teu­er?«
   »Ich arbeite kostenlos, weil ich ja nicht echt bin.«
   »Sie schickt der Himmel!« jubelte der Oberförster. »Sie können sofort anfangen! Und ich habe endlich Zeit für meine Hobbies, als da sind das Sammeln von Katzen mit Blumenmuster, das Dressieren kleiner Autos und das Verbie­gen von Fahrrädern. Geben Sie zu, solche faszinierenden Hobbies hätten Sie einem Oberförster nicht zugetraut, was?«
  Doch dann fiel ihm etwas Unangenehmes ein und er sagte nachdenklich:»Fast hätte ich vor Freude etwas Wichtiges vergessen. Ich muß mir doch zu­erst noch eine neue Brille besorgen und den letzten Hirsch erlegen, der hier im Revier herumläuft.«
   Der Hirsch erschrak furchtbar, ließ sich aber nichts anmerken und erwiderte geistesgegenwärtig: »Sparen Sie sich die Mühe! Den können Sie vergessen. Ich habe ihn vor ein paar Tagen an der Grenze getroffen, als er gerade dabei war auszuwandern. Er hat sich über mich lustig gemacht, weil ich nur synthetisch bin und damit geprahlt, daß er im Gegensatz zu mir ganz echt sei. Von ihm habe ich übrigens Ihre Adresse. Er läßt auch schön grüßen.«
   Erleichtert nahm der Oberförster dies zur Kenntnis. Der sogenannte synthetische Hirsch wurde engagiert. Fortan widmete sich der Ober­förster seinen aufwendigen Hobbies, und der Hirsch erledigte die Hausarbeit. So ging es eine ganze Weile. Und so hätte es in alle Ewigkeit weitergehen können, wäre da nicht der berufsbedingte Jagdinstinkt des Oberförsters gewesen. Mitten im schönsten Katzen-mit-Blumenmuster-Sammeln, Kleine-Autos-Dres­sieren und Fahrräder-Verbiegen mußte er oftmals denken: ‘Das ist ja alles gut und schön. Aber ich bin schließlich immer noch Oberförster, und etwas sagt mir, daß hier irgendwo immer noch ein Hirsch ungeschossen herumläuft. Zwar weiß ich von meiner synthetischen Haushaltshilfe, daß der letzte Hirsch ausgewandert ist, aber vielleicht ist er ja zurückgekehrt, oder ein neuer ist aufgetaucht. Ich muß ihn zur Strecke bringen, so lästig mir das auch ist.’
   Pflichtbewußt suchte er den Optiker im nächsten Ort auf, der ihn mit den Worten »Auch mal wieder?« empfing und ihm die soundsovielte Brille gegen sein besonderes Augenleiden verkaufte. Mit der Brille auf der Nase kehrte der Jägersmann zum Forsthaus zurück, legte seine Jagduniform an, hängte sich das Ge­wehr um und ging auf die Pirsch. Der Hirsch, der sich vorsichtshalber im Besen­schrank versteckt hatte, sah das überhaupt nicht gern und überlegte, was zu tun sei. In seiner großen Furcht wollte er schon die Hausarbeit hin­schmeißen und außer Landes fliehen, solange der Oberförster fort war. Doch dann fiel ihm etwas besseres ein. Schließlich hatte er sich doch vorgenommen zu verhindern, daß der Oberförster je wieder eine Brille aufsetzte. Es gab ja noch die Katzen! Die hatten, da sie den ganzen Tag unterwegs gewesen waren,  gar nicht mitbekommen, daß der Herr des Hauses eine neue Brille trug. Als der Hirsch ihnen nun davon erzählte, lief ihnen das Wasser in den Mäulern zu­sammen. Gemeinsam wurde ein Plan entwickelt.
   Der Oberförster war kaum ein paar Schritte gegangen, als ihm das Pflichtbe­wußtsein schon wieder verging. »Eigentlich würde ich mich viel lieber mit meinen Hobbies beschäftigen anstatt hier herumzulaufen«, sagte er zu sich selbst. »Da bin ich dank meines synthetischen Helfers glücklich die Hausarbeit los und hätte endlich ausreichend Zeit und Muße für meine Lieblingsbe­schäfti­gungen, aber immer noch lenkt mich dieser dämliche Beruf davon ab. Was soll ich nur tun?«
   Mißmutig machte er kehrt und ging heim. An der Haustür schlugen ihm dicke Dampfwolken entgegen. »Gott behüte!« rief er. »Der synthetische Hirsch macht große Wäsche!« Im selben Augenblick war seine neue Brille total be­schlagen, so daß er nicht mehr sehen konnte, wo er hintrat. Unglücklicher­wei­se waren im Flur ein paar Wäscheleinen ganz ungewöhnlich tief gespannt, und  es wäre schon ein Wunder gewesen, wenn der Oberförster nicht zu Fall gekommen wäre. Dabei verlor er die Brille. Im selben Moment kamen die Katzen aus dem Dampf hervorgeschossen, schnappten sich ihre Lieblings­beute und verschwanden damit.
   »Was ist denn das hier für eine Sauwirtschaft!« schimpfte der Oberförster, indem er sich aufraffte. »Und die neue Brille schon ein Raub der Katzen, kaum daß ich sie aufgesetzt habe! Das wird mir allmählich zu teuer.« 
   Der Dampf verzog sich. Ganz scheinheilig tauchte der Hirsch auf und entfernte die Wäscheleinen. »Diese Katzen«, sagte er kopfschüttelnd, »trotzdem kann man ihnen einfach nicht böse sein.«
   Der Oberförster gab ihm in diesem Punkt recht, beklagte sich aber, daß er seinen Beruf allmählich leid sei, und das ewige Brillenkaufen, das sich ja doch nicht lohnte, erst recht. 
   »Es ist doch ganz einfach«, sagte der Hirsch, als er sah, daß sein Plan funktionierte. »Sie müssen in Rente gehen! Dann werden Sie endlich diesen lästigen Jagdinstinkt los und haben Zeit noch und noch für Ihre Hobbies.«
   »Was für ein genialer Gedanke!« rief der Oberförster begeistert. »Wieso kom­me ich nicht auf so etwas? Sie haben recht, mein Bester, das ist die Lösung! Ich gehe noch heute in Rente. Und der letzte Hirsch kann mich mal.«
   »Recht so«, sagte der Hirsch. »Das ist die richtige Einstellung.«
 Dem pensionierten Oberförster bekam das Rentnerdasein dann ganz vortrefflich, er verbog von früh bis spät Fahrräder und dressierte kleine Autos. Eine Brille kaufte er nicht mehr; sollte ruhig alles künstlich aussehen, ihm war’s egal, jetzt, da er nicht mehr jagte. Die Katzen mit Blumenmuster waren damit allerdings nicht ganz zufrieden, und hin und wieder, wenn es die Hausarbeit zuließ, ging der Hirsch nach Einbruch der Dunkelheit zum Optikergeschäft, um aus der Abfalltonne alte, un­scharf gewordene Brillen herauszuwühlen. Mit denen hielt er die Katzen bei Laune, damit sie ihn nicht doch noch verrieten.
Anmerkung der Redaktion: Der real existierende synthetische Hirsch von Weyhausen soll, wie man aus geweihten Kreisen bzw. ungewöhnlich gut unterrichteten Quellen hört, möglicherweise als Opfer von Witterungseinflüssen haarscharf vor dem Kollaps stehen. Schrecklich!

Text und Bild © Eugen Egner