Die Farbe des Schweigens

Andreas Fischer – „Die Königin von Troisdorf“

von Frank Becker

Die Farbe des Schweigens
 
Protokoll einer verlorenen Kindheit
 
 
„Meine Fragen werden ohne Antwort bleiben, denn heute lebt niemand mehr,
der dazu Auskunft geben könnte. Ich habe es versäumt, die richtigen Fragen
zur richtigen Zeit zu stellen. So bleibt mir nur die Fantasie.“
(Andreas Fischer)
 
Der Zweite Weltkrieg ist seit 16 Jahren Geschichte, als Andreas Fischer im rheinischen Troisdorf, wo die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier betreiben, geboren wird. Deutschland ist dabei, sich aus den politischen, kriegsbedingten und mentalen Trümmern zu erheben, das Wirtschaftwunder kurbelt das soziale bürgerliche Leben an. Viele Männer sind nach 1945 nicht aus Krieg oder Gefangenschaft nach Hause zurückgekehrt, wohl aber Reinhold Fischer, der gleich danach seine Braut Ilse heiratet. Und viele haben einfach nicht begriffen, welchem verbrecherischen Regime samt seinem größenwahnsinnigen „Führer“ sie gefolgt sind. Der verlorene Krieg sitzt ihnen als Schande in den Köpfen.
 
Das Kind Andreas kommt spät und bleibt allein, denn „einer von deiner Sorte reicht uns“. So unschuldig wie ein Kind nur sein kann, wird er von den eigenen Eltern mit Abneigung, vor allem aber von der Großmutter Lena allein für sein Dasein mit Haß bestraft. Quälendes Schweigen wird als seelische Züchtigung in all seinen farbigen Facetten eingesetzt. Elterliche Liebe und Zuwendung wird dem nach Nähe hungrigen Jungen genauso vorenthalten wie sie den Eltern selbst gegenseitig abgeht, die für die persönliche Entwicklung enorm wichtige Anerkennung bleibt ihm versagt. Bis auf wenige aus dem Augenblick gewachsene stille Einverständnisse, Gemeinsamkeiten mit dem Vater, einem glühenden Nazi-Verehrer, dessen regelmäßige Abendgestaltung darin besteht, sich in der Küche rauchend zu betrinken, fehlen jegliche Berührungspunkte. Wichtig sind allein gute Geschäfte, ein schönes Haus, Schrankwände, der Sechszylinder vor der Tür, sowie „wegen der Leute“ der sonntägliche Kirchgang - zumindest der Frauen und des dazu genötigten Kindes.

Gemeinsame Familienurlaube gibt es nicht, gibt es nie. Die stellvertretende Zuneigung von Tante Ilse und Onkel Bruno erweist sich irgendwann ebenso als Schimäre. Da bekommen Marginalien Gewicht, werden winzige Augenblicke brüchigen Glücks, aufblitzende Momente des Alltags, Gegenstände wie eine Brosche, ein gerettetes Kinderbuch, ein Bollerwagen oder ein Glas TriTop Mandarine  bedeutungsvoll. Unerklärlich und bis zu ihrem Ende unerklärt ist die bitterböse Ablehnung, die Oma Lena, die „Königin von Troisdorf“ (S. 141) dem Knaben beinahe geifernd entgegenbringt. Die notwendigen Folgen sind schulische Probleme des eigentlich aufgeweckten Jungen und der abgrundtiefe Haß, der sich in Andreas aufbaut. Alptraumhafte Visionen und ein Testament, das er 1975 nach dem Suizid eines anderen Jugendlichen schreibt, zeugen davon. Das Testament wird entdeckt, er muß es vernichten. So rätselhaft wie der Haß der Oma bleibt das Zweitleben des Vaters nach dem Eintritt in die Rente, als er sich für Jahre charmant liebevoll einer fremden Familie zuwendet. Ein weiteres Trauma, mit dem der Autor gewiß bis heute ringt. Da wundert es nicht, daß er selbst über Frau Murnau einen Familienersatz sucht.
 
Aus Erinnerungen, Dokumenten, Briefen, Feldpost, Begegnungen und Gegenständen setzt Andreas Fischer in seinem autobiographischen Roman die Geschichte seiner Familie von 1914 bis 2014 vom Einsatz des Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg bis zum Tod der Mutter zum dramatischen Psychogramm seiner Zeit und seiner verlorenen Kindheit, zu einem Quilt des Nichtverggessen- und Nichtverzeihenkönnens zusammen. Erst spät schlägt Fischer im Kapitel 46 eine Brücke zu den möglicherweise ursächlichen Ereignissen des Nationalsozialismus des Reichs, zur geleugneten Kriegsschuld und dem angezweifelten Judenmord dieser unseligen Zeit – (übrigens bis in die 70er Jahre symptomatisch für das kollektive Gedächtnis der Deutschen – ich erfuhr durch die Schule nichts von den unfaßbaren Verbrechen). Die Lektüre ist sehr bedrückend, gleichwohl liest man, sobald man sich auf die Zeitsprünge, derer er sich als Stilmittel bedient, eingelassen hat, mit großer Spannung und wachsendem Mitgefühl dieses kalte, lieblose Leben mit.
 
Ein Kriegsenkelroman, schreibt der Verlag im Klappentext und liegt damit trotz gewisser Bezüge ein wenig daneben. Es ist das bittere Protokoll einer verlorenen Kindheit, eine Abrechnung - und dann ist es schließlich doch noch das Testament, das der 14jährige 1975 vernichten mußte. In seinem Gedächtnis ist es eingebrannt geblieben. Im Gedächtnis der Leser wird es bleiben. Sehr zu empfehlen – und unser Buch der Woche.
 
Lieber Papa,
Lieber Papa im Himmel,
möglicherweise hat Susi Saratoga gegen eine geringe Gebühr,
oder auch ohne eine solche, vor dir ihren Körper entblößt und
zärtliche Handlungen an dir oder sich selbst vorgenommen.
Ich hoffe es für dich.
Allerdings fürchte ich, es galt lediglich, schwere Möbelstücke
zu verrücken, Heizkörper zu entlüften und nach
Wasserhahndichtungen zu sehen.
 
 
Andreas Fischer – „Die Königin von Troisdorf“
Wie der Endsieg ausblieb
© 2022 eschen 4 verlag, 473 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen - ISBN: 9783000703690
22,50 €
 
Weitere Informationen: www.eschen4.de