Von „angetrockneten Fußspuren“ ...

Anja Liedtke – „Ein Ich zu viel“

von Marina Jenkner

Von „angetrockneten Fußspuren“
... und tiefem Eintauchen in die
Auswirkungen der Geschichte
 
Ellinor reist nach New York und kommt bei dem erfolgreichen Psychologen Dan Guttmann unter. Ihr Weggehen aus Deutschland ist auch eine Flucht vor einer Elterngeneration, die die NS-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs aktiv und passiv mitgetragen und verlernt hat, wie man liebt, weil es ihnen im Rahmen der NS-Ideologie aberzogen wurde. Ellinor findet bei Dan Verständnis, obwohl auch seine Herkunft von den NS-Greueln überschattet ist. Zugleich lassen Ellinor die Konflikte mit ihrem Vater auch nach der Reise über den großen Teich nicht los. Wer sich einmal mit der Nazi-Erziehungsphilosophie von Dr. Johanna Haarer beschäftigt hat, weiß, daß sich dadurch Problematiken bis in die Kinder- und Enkelgenerationen hinein ergeben haben.
 
Dans Vergangenheit und die seines Freundes Simon, beide jüdischer Abstammung, werden Ellinor während einer Reise nach Argentinien vor Augen geführt. Die Geschichte der beiden Kinder führt Anja Liedtke den Lesern besonders lebhaft und bewegend vor Augen. In Argentinien treffen Ellinor, Dan und Simon auch auf Adi, der ebenfalls mit der Vergangenheit und seinem Vater ringt.
In Anja Liedtkes Roman hadern alle Protagonisten mit den Geistern der Vergangenheit, mit der Geschichte, die sie scheinbar auf unterschiedlichen Seiten stehen läßt und sie am Ende doch alle zusammenführt. Zu ihrem eigentlichen Ich. So ist auch Ellinor am Ende des Buches eine andere, eine an den Herausforderungen gewachsene junge Frau.
 
Anja Liedtke hat einen Entwicklungs-Roman vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die nachfolgenden Generationen geschrieben und sich dabei nicht nur spannenden Figuren, sondern auch einer schönen literarischen Sprache verschrieben.
Ein sehr poetischer Satz am Ende des Romans kann vielleicht auch metaphorisch für die Herangehensweise der Autorin an die Protagonisten und ihre Geschichten gesehen werden: „Ich überschritt die gesplitterte Holzschwelle des Lunchcafés und ging angetrockneten Fußspuren auf schwarzen Fliesen nach.“
 
Anja Liedtke – „Ein Ich zu viel“
Roman
© 2021 Assoverlag Oberhausen, 211 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-938834-97-8
18,- Euro
Weitere Informationen: www.assoverlag.de