Heinrich Heines Zuckererbsen

Wie ist der Dichter auf die Hülsenfrüchte gekommen?

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Heinrich Heines Zuckererbsen
 
Wie ist der Dichter auf die Hülsenfrüchte gekommen?

 
Von Heinz Rölleke
 
Eines der bekanntesten Gedichte Heinrich Heines bildet den Eingang zu seinem Zyklus „Deutschland. Ein Wintermärchen“, der 1843 erschienen ist.

            Caput I beginnt mit dem Vers „Im traurigen Monat November war's“. Es geht um die vorübergehende Rückkehr des schon lange im französischen Exil lebenden  Dichters in sein Vaterland. An der Grenze hörte er endlich einmal wieder die lange entbehrten deutschen Laute an sein Ohr klingen. Eine arme Straßenmusikantin sang ein Lied, dessen Text den liberalen Dichter empörte und in gerechtfertigte Rage versetzte:




            Ein kleines Harfenmädchen sang,
            Sie sang mit wahrem Gefühle
            […]
           
            Sie sang das alte Entsagungslied,
            Das Eiapopeia vom Himmel,
            Womit man einlullt, wenn es greint,
            Das Volk, den großen Lümmel.
            […]
 
            Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
            Ich kenn auch die Herren Verfasser;
            Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
            Und predigten öffentlich Wasser.
 
            Ein neues Lied, ein besseres Lied,
            O Freunde, will ich euch dichten!
            Wir wollen hier auf Erden schon
            Das Himmelreich errichten.
            [---]
 
            Es wächst hienieden Brot genug
            Für alle Menschenkinder,
            Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust.
            Und Zuckererbsen nicht minder.
 
            Ja, Zuckererbsen für jedermann,
            Sobald die Schoten platzen!
            Den Himmel überlassen wir
            Den Engeln und den Spatzen.
            […]
 
Das Gedicht beklagt die ungerechte Verteilung der Güter auf Erden. Was „fleißige Hände erwarben“ wird vom „faulen Bauch“ der Nichtstuenden, die „heimlich Wein“ trinken, verschlemmt. Und diese verfassen Lieder für das darbende Volk, mit denen es eingelullt wird, damit die Armen trotz ihres unverschuldeten elenden Lebens sich ruhig verhalten: Man vertröstet sie auf die himmlischen Freuden nach dem Tod. Das Gedicht spielt mit dem Verb „predigten“ deutlich auf den Klerus an, der ja auch für die Beschreibung der angeblich zu erwartenden himmlischen Freuden zuständig ist. Diese Lieder sollen umgeschrieben werden, was im Verlauf des Textes auch schon geschieht. Darin werden die Verhältnisse umgekehrt: Vom Brot, von dem genug vorhanden ist, wird gegenwärtig den Armen, die grundsätzlich mit Blick auf das ihnen verheißene Himmelreich entsagen sollen,  nur wenig zugeteilt; künftig sollten sich alle gleichermaßen daran sättigen. Als eine Art Delikatesse werden dazu „Zuckererbsen für jedermann“ versprochen. Und damit wäre dann das utopische Himmelreich realistisch auf der Erde errichtet, in dem nicht nur die bislang Armen, sondern sogar die Spatzen in bescheidenen Genüssen schwelgen würden. Der bislang den Armen versprochene Himmel ist bis auf die höchst irdischen Sperlinge und die chimärischen Engel leer geräumt.
            Warum aber werden allen Menschen ausgerechnet und sehr ausdrücklich „Zuckererbsen“ versprochen?
            Auf diese Frage geben die kommentierten Heine-Ausgaben keine Antwort: Weder die nach 1945 verbreitetste Taschenbuch-Ausgabe noch die parallel in der DDR und in der BRD erschienenen Historisch-Kritischen Ausgaben erklären, um was es sich bei dem offenbar delikaten Lebensmittel handelt, geschweige denn, was Heine bewogen haben könnte, den Armen nach der ersehnten Umkehrung der Verhältnisse ausgerechnet diese Schotenfrucht zu verheißen.
            Zuckererbsen oder auch Zuckerschoten sind schmackhafte Erbsen, die man roh oder gegart samt der Schale genießen kann. Sie sind zwar nicht gerade eine kulinarische Kostbarkeit, gehören aber zweifellos in die Kategorie der feineren Genüsse, die sich in früheren Zeiten eher die Reichen leisten konnten.
            Die Bezeichnung „Zuckererbsen“ erklärt das Adelung'sche Wörterbuch von 1786: „Eine Art dünnschaliger Gartenerbsen von süßem Geschmacke.“ Das Kompositum begegnet aber in der Literatur höchst selten, so daß man der zweimaligen Nennung in Caput I eine gewisse Apartheit attetstieren kann. Zu Heine könnte allerdings eine volksliterarische Spur führen; diese findet sich im seinerzeit und noch bis heute wenig bekannten Anmerkungsband zu den Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“, durch den der Dichter sich bemerkenswerterweise schon zwanzig Jahre vor der Entstehung seiner „Winterreise“ hatte anregen lassen. Hier hatte Heine einen Hinweis auf ein japanisches Märchen entdeckt, der so versteckt ist, dass ihn die Forschung erst 2006 als Anregung für das Gedicht „Es ist die Libelle, die blaue,...“ nachgewiesen hat (bis dato hatten alle kommentierten Heine-Ausgaben diese Quelle übersehen, obwohl es allgemein bekannt war, daß der Dichter als ein großer Kenner und Verehrer der Grimm'schen Werke ungewöhnlich häufig aus diesen zitiert). Bei Grimm liest man in ihrer Märchenrundschau in alle Welt: „Zum Schluß wollen wir ein japanisches […] mittheilen.“ In seinem Gedicht nimmt Heine darauf überdeutlich Bezug: „Die Fabel ist japanisch.“ Da die Heine-Kommentatoren den Anhang zu Grimms Märchen anscheinend nicht kannten, sind sie diesem Hinweis nie nachgegangen.
            Und was nun die hier in Rede stehenden „Zuckererbsen“ betrifft, scheint sich die Sache ganz ähnlich zu verhalten.
            Heine hat den Anmerkungsteil zur ersten Grimm'schen Märchenausgabe von 1812 mit Interesse studiert, vor allem wohl das Kapitel „Einiges aus dem Kinderglauben.“ Denn er selbst erinnerte sich gern an seine Kindheit und besonders an eine Düsseldorfer Sage um das Reiterstandbild auf dem Marktplatz, anhand derer er sich später vergegenwärtigte, wie Kinder solche Geschichten aufnehmen und auf ihre Weise fortspinnen. Er erzählt von der Entstehung des Reiterstandbilds Jan Wellems, für das die Düsseldorfer Bürger ihre silbernen Löffel gespendet hätten:
 
            Als Knabe hörte ich die Sage […] und nun stand ich stundenlang vor      
            dem Reiterbilde und zerbrach mir den Kopf, […] wieviel  
            Apfeltörtchen man wohl für all das Silber bekommen könnte.
 
Der Knabe denkt vor dem Bild des mächtigen Landesherren an seine Lieblingstörtchen, für die man nach seiner Meinung das gespendete Silber vielleicht sinnvoller hätte verwenden können.
            Zu Beginn des Grimm'schen Aufsatzes aber konnte er lesen, es sei  Kinderglaube, daß Engel die Neugeborenen bringen und daß sie himmlisches Zuckerwerk für diese spenden: „[...] gewöhnlich sind es bunte Zuckererbsen.“ Grimm meint damit wohl nicht die Hülsenfrüchte, sondern die homonym identisch bezeichneten Zuckerkügelchen. Er zitiert 
kurz darauf noch einen Beleg aus Fischarts „Geschichtklitterung“ von 1575: In seiner kindlichen Vorstellung ist für Gargantua der Schnee Mehl, die Wolken sind Wolle und die  großen Hagelkörner, „die Schlosen“ sind „Zuckererbsen“ (nicht eindeutig zu entscheiden, ob damit tatsächlich  Erbsen oder Süßigkeiten gemeint sind). Es ist nicht vorstellbar  - und Heine sah es gewiß ähnlich -, daß die Engel solch bescheidene Beigaben den Fürstenkindern bescherten; vielmehr werden damit wohl vor allem die Kinder der (ärmeren) Bürger beschenkt.
            „Zuckererbsen für jedermann,/ Sobald die Schoten platzen,“ verspricht Heines Gedicht für die Zeit, da sich die üblen gesellschaftlichen Verhältnisse wandeln. Dabei schließt die Vorstellung von Erbsen als ein Grundnahrungsmittel an die Verheißung des Brotes für alle an, während der Zucker mehr an solche Genüsse denken läßt, die sogar den bislang utopisch zugesagten Himmel ersetzen könnten. Das sind Vorstellungen, die etwas naiv-kindlich wirken und den Grimm'schen Ausführungen über den Kinderglauben ähneln. Ob sich Heine bei der Konzeption seiner „Winterreise“ dessen noch bewusst war oder ob er die Zeugnisse für den allgemein verbreiteten Kinderglauben inzwischen verinnerlicht hatte, ist für den Rezeptionsvorgang von untergeordneter Bedeutung. Jedenfalls knüpft der Dichter mit dem Motiv der „Zuckererbsen“ auch hier wie so oft an Vorstellungen aus dem Bereich der Volksliteratur an. 
 
© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter