Ein eisiges Geheimnis

Michelle Paver – „Schneegrab“

von Frank Becker

Ein eisiges Geheimnis
 
Spannung pur in Michelle Pavers
Bergsteiger-Drama

Nicht nur eingefleischte Alpinisten erliegen der ungeheuren Faszination, die von der Größe, der Ewigkeit und von der Gewaltigkeit des Hochgebirges ausgeht. Bis heute ist mir aus frühester Kindheit mein erster Kinobesuch überhaupt erinnerlich, zu dem mein Vater mich zu dem Dokumentarfilm über die Erstbesteigung des Mt. Everest (Die Bezwingung des Everest, 1953) durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay mitnahm. Bereits als Steppke wurde mir die Naturgewalt deutlich, die von diesem ehrfurchtgebietenden Achttausender ausging. Höher als auf die Ötztaler Kreuzspitze mit einer Höhe von 3455 Metern habe ich es selber später nicht gebracht, aber schon da großen Respekt vor den Bergen empfunden.
 
Was treibt nun aber Menschen an, sich unter Entbehrungen auf den beschwerlichen Weg zu machen, um die Achttausender-Gipfel des mächtigsten Gebirges der Welt zu erobern, sie zu bezwingen? Ist es rein sportlicher Ehrgeiz, ist es der schlichte Wunsch, einmal die Erde vom Gipfel ihrer  höchsten Punkte zu betrachten, ist es grenzenloser Hochmut oder ganz einfach nur der Umstand, „daß sie da sind“?
1935, Indien ist noch englische Kolonie: Vier Engländer und ein Schotte brechen von Darjeeling aus zu einer Expedition auf, um zum ersten Mal den Gipfel des Kangchenjunga (Kangchendzönga), des dritthöchsten Berges der Welt zu bezwingen. Etliche andere waren vor ihnen teils katastrophal an diesem Unternehmen gescheitert. Die Autorin Michelle Paver verflicht geschickt historische Situation und Ereignisse mit ihrer gänzlich, aber wunderbar erfundenen Romanhandlung. Sie schildert den wochenlangen Anmarsch mit einem Troß von Kulis und Sherpas durch den hoch gelegenen  tropischen Dschungel und das karge Gebirgsvorland mit all seinen Schwierigkeiten und zeigt die arrogante koloniale Lebenseinstellung der meisten der beteiligten Bergsteiger. Bis hin zum Aufbau des Basislagers und der Höhen-Camps, der Ernährung und der gesundheitlichen Ausfälle sowie der Zweifel der Sherpas, denen der Berg heilig ist, beschreibt sie jeden Schritt der Schicksalsgemeinschaft, jeden Aspekt des Unternehmens. Sie schlüpft dafür in die Person des Expeditionsarztes Dr. Stephen Pearce, der mit seinem älteren Bruder Kits, dessen Studienfreund Garrard, dem Expeditionsleiter Major Cotterell und dem schottischen Kolonialoffizier McLellan das Wagnis unternehmen will, auf der Route einer 29 Jahre zuvor gescheiterten und von einem Geheimnis umwitterten Expedition nun den Berg zu bezwingen.
 
Der Berg heißt sie nicht willkommen: Orientierungslosigkeit in Schneesturm und Nebel, dann wieder Hautverbrennungen durch die gleißende Sonne, quälende Höhenkrankheit mit den unterschiedlichsten Symptomen und Auswirkungen, tagelange tosende Stürme, plötzliche lähmende Stille, bittere Kälte, die durch alle Schutzschichten dringt, Lawinenabgänge, Alpträume und unerklärliche gespenstische Phänomene schütteln die Gruppe. Dr. Pearce und nicht nur er fühlt ein Grauen, das mit der tödlich gescheiterten Lyell/Tennant-Expedition von 1906 verbunden ist. Die Stimmung zwischen den Männern, vor allem zwischen den sehr ungleichen Brüdern Stephen und Kits, beginnt zu kippen. Nur noch ein schmaler Grat trennt Wahnsinn und Wirklichkeit. Stephen Pearce entdeckt ein fürchterliches Geheimnis aus der Vergangenheit, das nicht im eisigen Schnee begraben bleiben will.
Mehr Details über das ungemein spannende Bergsteiger-Drama im eisigen Himalaya der 1930er Jahre will ich hier nicht aufdecken – das soll dem Leser überlassen bleiben. Michelle Paver hat ihrem Roman nach umfangreicher Recherche und mit raffinierter Sprache eine steigende, geradezu unheimliche Sogwirkung gegeben, die bis zum Ende nicht nachläßt.
Von den Musenblättern besonders für die dunklen Stunden dieser kalten Wintertage sehr empfohlen.
 
Michelle Paver – „Schneegrab“
Roman (Originaltitel: Thin Air)
Aus dem Englischen von Karin Dufner
© 2022 Piper Verlag GmbH, 304 Seiten, Klappenbroschur - ISBN-13: 9783492063456
17,- €
 
Weitere Informationen: www.piper.de