Verleih uns Frieden gnädiglich

59 Minuten Weihnachten mit der Formatiion Ufermann

von Johannes Vesper

Schalom, Salam, Frieden

Weihnachten in 59 Minuten mit Erhard Ufermann
 
Von Johannes Vesper
 
Zeitenwende, das war das ursprüngliche Weihnachten, als Jesus unehelich geboren wurde und in einem Futtertrog kaum überlebt hat. Zwar feierten die Hirten auf dem Felde so, daß sie die Engel singen hörten. Aber das Kind aus schwierigen sozialen Verhältnisse wurde damals bei nicht bekanntem Vater in einer Notunterkunft geboren. Bei solchen Familienverhältnissen würde das Jugendamt heute flexible Erziehungshilfe, vielleicht auch Heimunterbringung vorschlagen. Der Begriff der Zeitenwende erhielt jetzt in ganz anderen Zusammenhängen neu definiert und zum Wort des Jahres befördert. Der Aufbruch in eine neue Zeit bedeutet heute 100 Milliarden € für Waffen, nicht gegen den Hunger, nicht gegen die Klimakatastrophe. Mit solchen Überlegungen begann Erhard Ufermann die „59 Minuten Weihnachten“ am 2. Advent (Sonntag den 11.12.22) im vollbesetzten Kulturzentrum Immanuel Wuppertal.
 
Nach der Einführung sang Hayat Chaoui, begleitet von der Ufermann-Band (E-Klavier, Schlagbaß, Schlagzeug, Saxophon, Trompete und Percussion) das alte, bittere Lied: Oh Heiland reiß die Himmel auf. Bei diesem Trost-Schrei-Lied drängte sich der starke Jazz- Rhythmus fast trotzig ins Ohr. „reiß ab, wo Schloß und Riegel für“ wurde in den schlimmen Zeiten des 30jährigen Krieg gedichtet und als Ausdruck von Sehnsucht nach einer besseren Welt seit Jahrhunderten erfolglos gesungen. Im Wechsel zwischen Rezitation und Musik wurde die Weihnachtsgeschichte an diesem Nachmittag wieder aktualisiert und in etlichen alten Liedern „Es kommt ein Schiff
geladen…,“, „Maria durch den Dornwald ging“ u.a. - menschliches Leid unabhängig vom zeitlichen Bezug der Entstehung beschworen. Alles andere als süßes Glocken-Klingelingeling. Auch die muslimische Weihnachtsgeschichte wurde vorgetragen, nach der Maria in die Wüste geschickt wurde, um Isa  zu gebären, den Bruder Jesu und nach Mohammed zweitwichtigsten Propheten des Islam. Zur Zeitenwende bei Christi Geburt herrschten zwischen Kreuz und Krippe schlimme Verhältnisse mit Krieg, Flucht, Obdachlosigkeit. Heute kommen Bombardement, Artilleriefeuer, Folter und Vergewaltigung dazu. Denken wir an Boutcha und die Ukraine, an Syrien oder Äthiopien bleibt nur Hoffnung und Gebet. Wird maximale Aufrüstung zu mehr Frieden führen? „Herzlieber Jesus, was hast du verbrochen“, die himmlische Frauenstimme von Hayat Chaoui gegen harten Jazz und schreiendes Saxophon macht die Konflikte sehr deutlich. Wirtschaft, Konsum, Politik, Skiurlaub und Kirche haben die Deutungshoheit über unser Weihnachtsfest voll übernommen. Aber Erhard Ufermann rappt dagegen kühl wie zuversichtlich: „Wo das Geld die Welt bewegt, zählt nur, wer aufs Kreuz gelegt“ und hofft „daß der alte Kindheitstraum steht neu auf in Zeit und Raum“. Damit es alle verstehen hat er außerdem in Englisch gedichtet: Let us remember, what we believed and what we have dreamed. Seine Mahnungen und Gedanken - das wußte schon Heinrich Heine - kommen aus dem Herzen und gehen unter die Haut, wenn Hayat Chaoui singt und die Formation Ufermann dazu jazzt. Und der Musikfreund bekommt zusätzliche Bonbons. Thomas Lensing sang zum Berimbau, dem einfachen Saiteninstrument brasilianischer Sklaven, oder Harald Eller konzertierte klangkomisch auf dem Daxophon. Bei diesem vom Wuppertaler Instrumentenbauer Hans Reichel erfundenen Audiophon werden Holzzungen unterschiedlicher Länge mit einem Kontrabaßbogen angestrichen. Der brüchige Klang gleicht stellenweise dem einer singenden Säge, wurde hier elektronisch gespeichert und per Pedal phasenweise untergemischt. An einem solchem adventlichen Nachmittag bleibt Politik auf Grundlage der Bergpredigt ein Traum, eine Illusion. Schalom, Salam, Frieden wünschen die Menschen sich gegenseitig von jeher und so endet diese Vorab-Christmette mit dem alten Choral „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unseren Zeiten“, den die wunderbare Hayat Chaouis ganz alleine anstimmte. und das Publikum zum letzten Mal verzauberte. Erst nach langer, bewegter Pause brach großer Applaus aus. Weihnachten kann kommen!

Die Schallplatte zum Programm:
Formation Ufermann, 59 Minuten Weihnachten. Bernd Kuschmann (Rezitation)
© ufermann GBR, 3. Auflage 2018. Booklet mit Texten und Liedern, Information zur Formation Ufermann, zu Hayat Chaoui, Bernd Kuschmann und Ercan Şahin.
Hayat Chaoui (voc) - Erhard Ufermann (p, voc, Kompostion u. Konzeption) - Dieter Nett (sax,cl, voc, arrangements) - Martin Zobel (tp, flh) - Harald Eller (b, g, Daxophon) - Jörg Dausend (dr) -  Thomas Lensing (perc, voc) - Ercan Şahin baglama (voc)
Stücke:
1. Ein Kind wird geboren (Rezitation) - 2. O Heiland - 3.Es kommt ein Schiff geladen -, 4.Ya Mariam - 5. Maria durch ein Dornwald ging - 6. Stille Nacht - 7. Stille Nacht (Rezitation) - 8. Wir beten für den Frieden - 9. Die Nacht ist vorgedrungen - 10. Es begab sich aber zu der Zeit (Rezitation) - 11. Es wird nichts bleiben wie es ist - 12. A dream was born - 13. Seit 2000 Jahren (Rezitation) - 14. Es wird ganz leise klingen - 15. Singt, singt dem Herrn neue Lieder - 16. Erenler Cemine - 17. Verleih uns Frieden.
 
Außerdem siehe auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=qtTgXBc_qdo  . Aufnahmen des Videoclips: Karl Heinz Krauskopf 2020, Musikaufnahmen Ralf Werner 2015.