„Als sei nichts gewesen“ (1)

Die Erinnerungen des Christoph Graf von Schwerin

von Joachim Klinger

„Als sei nichts gewesen“ (1)
 
Die Erinnerungen des Christoph Graf von Schwerin
 
Von Joachim Klinger

Der Buchtitel wirft Fragen auf: Blickt hier jemand resigniert auf ein Leben ohne Höhen und Tiefen zurück, auf ein Leben, das belanglos in Enttäuschungen endete? Vorsicht! Man beachte den Vorspruch nach dem Inhaltsverzeichnis. In ihm findet sich die Zeile, die als Buchtitel ausgewählt wurde. Dieser Vorspruch lautet:
      
       Und so lebt auch die Mehrheit der Deutschen schamlos angesichts ihrer 
       Verbrechen,als sei nichts gewesen, und niemand dürfe sie darin stören.
       Christoph Graf von Schwerin
 
Der Autor hatte alles Recht, seine Empörung in diese Worte zu fassen. Christoph war einer der Söhne des am Attentatsversuch auf Adolf Hitler beteiligten Verschwörers Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, der vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und kurz darauf hingerichtet wurde. Der ältere Bruder Wilhelm und der jüngere Bruder Detlef von Christoph leben noch.
Die Angehörigen von Widerstandskämpfern hatten es nach dem Krieg schwer. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung distanzierte sich von „Hochverrätern“, die es unternommen hatten, die Führung des Dritten Reichs zu beseitigen „während deutsche Soldaten im Endkampf verbluteten.“ Man konnte und mochte sich nicht mit „Putschisten“ identifizieren.
Christoph Schwerins Erinnerungen sind nicht geprägt von der berechtigten Empörung über solche Vorwürfe, aber das Erleben der Schrecknisse in der Kindheit wird immer wieder spürbar – und das kann nicht anders sein.
 
Die Anfänge lassen schöne und auch schwere Zeiten vor unserem Augen erstehen: die Kindheit auf den Familiengütern Sartowitz (Westpreußen) und Göhren (Mecklenburg), die Verhaftung und Verschleppung nach dem 20. Juli 1944 und die wechselvolle Nachkriegszeit. Wer historisch interessiert ist, findet hier eindrucksvolle und detaillierte Schilderungen. Wohnungssuche, Einschulungen, Überlebensstrategien – ein ständiges Hin und Her, das manche Unruhezustände späterer Jahre erklärt.
Mit „Die Explosion der Formen“ beginnt der für Literaturfreunde geradezu spannende Teil der Erinnerungen. Was für eine Fülle von Ereignissen, Begegnungen und Beobachtungen! Schon als Gymnasiast hat Christopf Schwerin avantgardistische Zeitschriften gelesen, Briefe an Verleger und Autoren geschrieben, Kontakte mit Künstlern geknüpft. Die Frankfurter „Poesie-Zeitung Meta“, herausgegeben von dem Maler Karl Otto Götz, machte ihn bekannt mit René Chars „Visage Nuptiale“ und aufmerksam auf die „Zimmergalerie Franck“ in Frankfurt/M. Dort stieß er auf die neue informelle Malerei. Anregungen kamen von dem Maler Bernhard Schultze, in dessen Bewegungsbildern Christoph Schwerin „die Wildheit, das Chaos eines Jackson Pollok gezämt“ sah.
In Frankfurt besuchte er auch den S. Fischer Verlag und traf dort Fritz Arnold, den Sohn des berühmten Karl Arnold, bei dem er viel von der aktuellen amerikanischen Literatur hörte.
Dann ein großer Augenblick! Im November 1952 kam Thomas Mann nach Frankfurt und sprach zum 90. Geburtstag Gerhart Hauptmanns in der Paulskirche. Konnte man danach auf ein persönliches Gespräch hoffen? Christoph Schwerin und der mit ihm wartende Student Rolf Hochhuth konnten ihre Schüchternheit nicht überwinden, und so fand kein Gespräch statt.
Im Frühjahr 1953 entschloß sich Christoph Schwerin, mit einem Freund im VW-Bus zu den Filmfestspielen nach Paris zu fahren. Eine Übernachtung bei Jean-Pierre Wilhelm, dem Übersetzer von Texten René Chars, war eingeplant.
Zunächst besuchte man die Galerie Facchetti und stand vor der neuen Kunst eines Fautrier, eines Riopelle und des auch in Deutschland bekannt gewordenen Jackson Pollock.
Dann die Begegnung mit René Char, einem Mann von zwei Metern Größe, der „mit seiner breiten Gestalt einem Boxer glich“. Dieser fragte nach dem „interessantesten deutschen Dichter“, und Christoph Schwerin nannte spontan Paul Celan, der damals erst einen Band Gedichte veröffentlicht hatte. Seine Lesung auf einer Tagung der „Gruppe 47“ – Celan trug seine „Todesfuge“ vor – war unfreundlich aufgenommen worden. Christoph Schwerin verließ René Char mit dem Gefühl, „daß Char mehr und anderes“ von ihm erwartet hatte.
 
Dann im Sommer 1953 München! Wieder vielfältige Anregungen und Begegnungen. Der Schriftsteller Rudolf Hartung lehrte Christoph Schwerin das Sehen und Lesen moderner Dichtung: Joyce, Proust und Kafka, und dann noch Elias Conetti. Dessen Buch „Die Blendung“, 1935 in Wien erschienen, hatte die Anerkennung von Thomas Mann gefunden. Auch Christoph Schwerin war tief beeindruckt von diesem Buch und nannte Canetti einen „ganz großen Autor von Weltrang.“
Bei einem Mittagessen, zu dem der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer eingeladen hatte, lernte Christoph Schwerin den jungen Daniel Keel kennen. Dieser erklärte, er wolle „Bücher mit Karikaturen herausbringen.“ Das erste Buch wolle er mit seinem Freund Paul Flora machen. Mit diesem Verlagsprogramm wurde aus dem Einzimmerverlag der große, angesehene Diogenes Verlag. Christoph Schwerin war Zeuge der „Geburtsstunde“.
 
Man staunt, wir rasch sich Christoph Schwerin ein internationales Beziehungsgeflecht geschaffen hat. Er erhält Einladungen, wird von bekannten Künstlern beherbergt und in Restaurants, Cafés, Ausstellungen und Museen geführt.
Ein Phänomen wird erkennbar: Beliebtheit. Man mag diesen jungen Mann aus guter Familie, der vor Geist sprüht, gebildet ist wie sonst nur ältere Menschen und doch bescheiden auftritt. Seine vornehme Haltung artet nie in Arroganz oder Anmaßung aus. Er ist freundlich, hilfsbereit und ein aufmerksamer Zuhörer. Und er hat eine besondere, seltene Begabung: er versteht Künstler, die sich schwer tun mit der Umwelt, ist von Mitgefühl durchdrungen und kann sich in neuartige, spröde Texte einfühlen.
Der von Ängsten geplagte Celan faßte zu Christopf Schwerin Vertrauen, der zurückhaltende Francis Ponge öffnete sich für Gespräche, und dem verschlossenen René Char war an seinem Urteil gelegen.
Paul Celan ging so weit, ihm ein neues Gedicht vorzutragen und nach seiner Meinung zu fragen. Schwerin fühlte sich wie blockiert und brachte nur heraus, die letzte Zeile komme ihm zu „zuversichtlich“ vor. Und siehe da: der verletzliche Celan reagierte nicht schroff-abweisend, sondern stumm. Aber in der gedruckten Fassung („Sprachgitter“) gibt es einen anderen Schluß dieses Gedichts, das nun den Titel „Zuversicht“ trägt!
 
In dem Kapitel „Thomas Mann“ berichtet Christoph Schwerin im behaglichen Erzählton von seiner Einladung zu Familie Mann in Erlenbach (Schweiz), die auf einen Briefwechsel mit Golo Mann zurückging, seinem Aufenthalt dort und die Hilfe beim Umzug nach Kilchberg. Er lebte mit den Manns zusammen wie ein naher Angehöriger und freute sich an dem Zusammensein. Thomas und Katja, Erika und Golo – ein spannungsreiches Miteinander!
Thomas Mann arbeitete damals an seinem „Felix Krull“ und las ein Kapitel vor. Christoph Schwerin schreibt:
„Ich wußte nichts zu sagen, ich war hingerissen. Wie überzeugend der Dichter ein jedes Wort, ein jedes Satzzeichen mit seinen Augenbrauen und seiner Stimme zu unterstreichen, zu kommentieren wußte, machte ihm kein Schauspieler nach.“
Die Zeit verging nicht nur mit Gesprächen, Spaziergängen und dem Essen mit Gästen, auch der Fischer-Verlag meldete sich. Die Bermann Fischers kamen zu einer geschäftlichen Besprechung. Es ging darum, daß der Ostberliner Aufbau-Verlag die Absicht hatte, zum 80. Geburtstag im Jahr 1955 eine Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns herauszubringen. Dagegen hatten die westdeutschen Verlagsleute Bedenken und fürchteten, daß diese Ausgabe zu Lasten von Bermann Fischer den gesamtdeutschen Markt erobern würde.
Nach Aufenthalten in Frankreich und der Schweiz dann noch eine Urlaubsreise nach Spanien, das von strenger Zensur geprägte Land des Diktators Franco. Bücher von Sartre, Camus, Adorno oder Lukás durften zwar in Spanien nicht ausgelegt werden, sie wurden aber in Argentinien verlegt und hier verkauft. Selbst Theaterstücke von Garcia Lorca wurden hier und dort aufgeführt. Die Diktatur zeigte Ermüdungserscheinungen.
 
 Folgen Sie der Lebensgeschichte Christoph Graf von Schwerins morgen an dieser Stelle.

Redaktion: Frank Becker